Die Poison Diaries
passiert, draußen auf dem Feld?«
Ich schaue hin. Ein Schaf hat sich von der Herde entfernt. Es hält sich abseits, in der Nähe einer kleinen Baumgruppe. Der Bauch ist geschwollen; das Lamm will bald heraus. Das Mutterschaf tritt die Erde platt, legt sich dann kurz hin, nur um sich gleich darauf wieder aufzurappeln, unruhig vor Schmerz. Das Blöken klingt dumpf und drängend.
»Das Schaf wird bald ein Lamm zur Welt bringen«, sage ich. »Ist es das, was ich mir anschauen soll?«
»Ja. Aber wir sind nicht die einzigen Zuschauer. Sehen Sie, da oben.«
Ich schaue hin. Hoch oben im Geäst eines Baums sitzt ein Rabe. Seine schwarzen Augen fixieren das Schaf mit hungrigem Blick.
Das sorgenvolle Summen der Gräser schwillt zu einem ängstlichen Schrei an. Ich ahne, was gleich passieren wird.
»Hier gibt es keine Beute für den Raben«, sage ich und hoffe, dass es wahr ist.
»Noch nicht. Aber bald.«
Die kalten, gnadenlosen Vogelaugen starren das in den Wehen liegende Schaf unbarmherzig an. »Der Rabe wird das Lamm fressen, gleich nachdem es geboren wurde«, sagt Mondsame gleichgültig. »Das Schaf wird nicht in der Lage sein, das Lamm zu verteidigen.«
Ich muss an den Tag in der Burg in Alnwick denken, wo Jessamine und ich Zeugen des Leids einer Mutter wurden, die um ihr Kind trauerte. Übelkeit überkommt mich. Ich bücke mich nach einem Stein, den ich nach dem blutrünstigen Vogel werfen will. Mondsames Stimme lässt mich innehalten. »Denken Sie daran: Ihre erste Aufgabe besteht darin, nichts zu tun.«
Das Schaf stöhnt auf und sinkt zu Boden. Es rollt sich auf die Seite. Es ist so weit.
Kraaaaaaaaaaaaaaah!
Der Rabe schlägt mit den Flügeln und kreischt erregt auf.
»Aber das Schaf ist völlig hilflos!«, protestiere ich. »Hör nur, wie es schreit – das Lamm kommt …«
»Die Aufgabe besteht darin, zuzuschauen und nichts zu tun.«
»Aber warum?«
»Wenn Sie nach der Macht verlangen, den Tod abzuwenden, müssen Sie auch in der Lage sein, im Angesicht des Todes untätig zu bleiben. Denn kein Heiler kann überall gleichzeitig sein. Und nicht jeder Tod kann – oder soll – verhindert werden. Schauen Sie hin, es fängt an: die Geburt … und der Rabe wartet schon. Schau, Weed, schau …
***
Es scheint so, als ob ich noch am Leben bin – oder doch tot – oder irgendwo dazwischen.
Ich glaube, Oleander ist fort. Er schweigt, endlich. Aber ich bin nicht allein. Ich fliege wieder, mit den Schwingen eines großen schwarzen Vogels. Die Federn sind allerdings merkwürdig: sie sind lang und schmal und dunkel, wie ledrige, spitze Blätter.
Ich schaue nach unten – dort liegt Hulne Park. Ich sehe das Haus, den Hof, den Pfad, die Schafweiden, den Wald. Alles wirkt winzig, wie eine Spielzeuglandschaft. Wie großartig es ist, diesen vertrauten Anblick von einem ganz anderen, schier unmöglichen Blickwinkel aus zu betrachten!
Wir erheben uns und kreisen über den Schafweiden. Jetzt kann ich auch einen Menschen sehen, der mir ebenfalls vertraut vorkommt. Er trägt Vaters alten Mantel. Es ist Weed.
Weed!
Ich rufe nach ihm, aber er schaut nicht auf. Kann er mich überhaupt sehen? Er steht am Rand eines Feldes und betrachtet eine kleine Baumgruppe. Dort liegt ein Schaf, ein weibliches Schaf, allein im Schatten der Zweige. Es will sich auf die Beine kämpfen, aber es gelingt ihm nicht. Ich frage mich, ob es verletzt ist.
Als ob es meine Gedanken lesen könnte, sinkt mein schwarz gefiedertes Reittier hinab, damit ich besser sehen kann. Jetzt erkenne ich alles: Das Schaf gebärt ein Lamm, und das ist wahrhaftig keine leichte Arbeit, seinen Schreien nach zu urteilen. Das Lamm baumelt halb geboren aus der Mutter, noch immer in dem glänzend nassen Sack. Da ist noch etwas anderes, etwas, das auch glänzt – schwarz und blutrot …
Nein!
Nein …!
Oh, wenn ich dort unten wäre, würde ich gegen dieses Ungeheuer kämpfen! Ich würde diesen Vogel mit eigenen Händen töten!
Weed! Kannst du mich hören?
Weed! Warum rettest du das Lamm nicht?
***
In vollkommener, entsetzlicher Stille wandele ich durch den silbrigen Nebel. Mondsamens Stimme leitet mich, und kurz darauf bin ich wieder im Giftgarten. Mondsame, Schweigrohr, Seidelbast und Rittersporn beben erwartungsvoll in den Beeten.
Ich warte nicht, bis ich angesprochen werde, denn mir tut das Herz weh von dem Anblick, zu dem man mich gezwungen hat, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als das alles hinter mich zu bringen. »Ich habe die Aufgabe
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