Die Poison Diaries
Regen.
Heute werde ich in den Giftgarten gehen, wie Jessamines Vater mich gebeten hat, in der Hoffnung, ein Heilmittel zu finden. Wenn er wüsste, wie dunkel der Pfad ist, auf den er mich schickt!
Aber er hat recht. Die Pflanzen in dem verschlossenen Garten besitzen große Kraft. Wenn es Heilung für Jessamine gibt, dann liegt sie vermutlich innerhalb dieser Mauern.
Sein Anliegen erschreckte mich. Weiß MrLuxton von meiner »Gabe«? Nein, denn nur ein Wahnsinniger würde auf etwas Derartiges kommen, und Luxton ist das Gegenteil davon. In seinen Augen gibt es keine Visionen, keine Wunder, keine Flüche, keine Hexerei. Es gibt nur Entdeckungen. Unbekannte Dinge, die erkannt werden. Wenigstens wird er mich nicht der dunklen Magie bezichtigen, wie Tobias Pratt es tat.
Ich weiß nicht, was aus mir werden wird, wenn ich diesen Ort betrete. Ich weiß nur, dass Jessamine uns entgleitet und dass die Heilpflanzen mir nicht helfen können – oder nicht wollen. Ich habe sie angefleht, habe auf Knien vor ihnen im Schmutz gelegen. Sie geben mir nichts! Stattdessen flüstern sie mir geheimnisvolle Warnungen zu. Sie jammern und klagen und dann schweigen sie. Ihre Verweigerung lässt mir keine andere Wahl.
Auch sie fürchten sich vor dem Giftgarten. Etwas ist hinter diesem hohen Tor geschehen, wo so viele tödliche Kräuter versammelt sind. Etwas Neues, eine gefährliche Macht, hat sich dort breitgemacht und schmiedet Pläne, um die Welt zu unterjochen. Es mag merkwürdig klingen, aber mir kommt es so vor, als sei es etwas ganz und gar Unnatürliches.
Vorhin, noch vor dem Morgengrauen, saß ich neben ihrem Bett und erzählte Jessamine, was ich vorhabe. Ich bat sie um ihre Erlaubnis, denn ich weiß, dass es sie ängstigt, wenn ich mich an diesen schrecklichen Ort begebe. Ich bat sie um Verzeihung, weil ich mein Versprechen ihr gegenüber brechen muss. Aber ich glaube nicht, dass sie mich hörte.
Es ist Zeit. Ich fürchte den Giftgarten. Ich fürchte mich vor dem, was mir hinter diesem hohen, schwarzen Tor widerfahren wird. Die Pflanzen dort sind bedrohlich. Sie sind viel klüger als ich, daran habe ich keinen Zweifel. Sie werden versuchen, mich zu täuschen und zu narren, und dann werden sie mich vielleicht vernichten. Aber tief in meiner Seele weiß ich, dass sie wissen, was ihr fehlt.
Ich würde mein Leben geben, um Jessamine zu retten. Vielleicht muss ich das tatsächlich tun.
***
Schaut. Schaut doch, wie schön ich bin.
Ich trage Mamas Hochzeitskleid. Jetzt ist es aus cremefarbenen Rosenblüten gewebt, die mich umschmeicheln, wenn ich gehe. Jeder Schritt, den ich tue, ist von Rosenduft begleitet.
Wenn ich des Gehens müde bin, dann schwebe ich. Ich kann überallhin schweben, kann überall sein. Ich vermähle mich mit dem Wind, wie das Schirmchen einer Pusteblume, wie eine Feder, ein Staubkorn.
Wie ein Geist.
Bin ich tot?
Vorher, als es mir gutging und ich ganz lebendig war, wollte ich zu gerne wissen, wie es in Alnwick Castle zugeht oder in einer großen, weit entfernten Stadt wie London oder in der endlosen Weite der kanadischen Wildnis jenseits des Meers oder sogar in jenem schrecklichen Krieg in Frankreich. Mein ganzes Leben lang war Hulne Park meine Welt und mein Kerker. Ich dachte, es wäre herrlich, etwas anderes zu sehen, obwohl ich nie die Hoffnung hatte, dass dieser Wunsch wahr werden würde.
Jetzt kann ich an all diese Orte reisen, und noch viel weiter. Ich bin frei! Zeit, Raum, Entfernung, selbst Vaters Verbote – nichts davon stellt noch ein Hindernis für mich dar.
Also, wohin soll ich fliegen? Wenn ich mich in die Burg schleichen könnte, würde ich gewiss nicht meine ganze Zeit in der Bibliothek verbringen, wie Vater es tut. Dort gibt es so viel mehr zu sehen! Die prachtvollen Prunkzimmer und der Speisesaal, die Küche und die Wehrgänge, die Waffenkammer mit den Piken und Hellebarden und Schwertern, mit denen die Schotten zurückgetrieben wurden.
Merkwürdig. Ich habe das Gefühl, dass noch jemand da ist, ganz in meiner Nähe. Ich weiß nicht, wer es ist, aber es ist schön, nicht allein zu sein.
Wenn sich dieser Jemand mit mir anfreunden möchte, könnten wir zu zweit fliegen.
***
MrLuxton begleitet mich bis zum Tor des Giftgartens und schließt es auf. Schon jetzt höre ich die grausamen Stimmen, die mich rufen, mich ins Verderben locken.
»Sei vorsichtig, Weed.« Er steckt den Schlüsselring ein. »Ich möchte nicht, dass du auch noch krank wirst.«
Ich zucke mit den Schultern. »Es
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