Die Poison Diaries
darf keine Zeit verlieren. Ich werde im Morgengrauen wieder in den Giftgarten gehen, um mich der zweiten Aufgabe zu stellen.
Ich fürchte, dass es diesmal noch schwieriger werden wird, denn die Zaunwinde vor meinem Fenster weint und klagt und will mir nicht sagen, warum.
Kapitel 17
E s ist früh am Morgen, kalt und dunkel, als MrLuxton mich erneut zum Giftgarten bringt. Wir gehen schweigend, und alles ist still, bis auf das Klingeln seiner Schlüssel. Das heißt, dass es wenigstens für seine Ohren still ist. Nicht für mich. Ich muss mich zwingen, um das Schluchzen zu überhören, die Warnungen und die Angstschreie, die uns auf Schritt und Tritt begleiten. Jede Blüte, jeder Baum und jeder Grashalm in Northumberland will mich daran hindern, an den Ort zu gelangen, den zu betreten mir nichts anderes übrigbleibt.
»Wenn Jessamine aufwacht, sagen Sie ihr besser nicht, wo ich bin«, bitte ich MrLuxton, als wir am Tor ankommen. »Sie würde sich aufregen, wenn sie wüsste, dass ich wieder hierher zurückgekehrt bin.«
»Ich glaube nicht, dass sie so schnell wieder erwacht. Sie hat heute Nacht unruhig geschlafen und oft im Schlaf gesprochen und gestöhnt.« Wie gestern schiebt er den Schlüssel in das Vorhängeschloss. Dann wendet er sich mir zu. »Ich glaube inzwischen, dass du ein unglaubliches Talent für diese Pflanzen besitzt, Weed. Was ich mir mühevoll in jahrelangen Studien erarbeiten musste, scheint dir geradezu zuzufliegen – wie Isaac Newton die Idee mit dem Apfel! Sei standhaft. Lerne, was du kannst. Ich werde auf dich warten.«
Ich trete durch das Tor, und schon umschließt mich der Nebel.
»Willkommen, Lammmörder.« Seidelbasts Stimme umkreist mich wie eine Schlinge, und ich erschauere vor Abscheu.
»Seien Sie nicht böse, Master Weed. Ich bin sicher, das war als Kompliment gedacht.« Schweigrohr kichert. »Ihre zweite Aufgabe gefällt Ihnen vermutlich besser als die erste. Sag’s ihm, Rittersporn.«
Die helle Stimme trillert: »Oh, es ist eine heldenhafte Aufgabe! Sie müssen die Schwachen gegen die Starken verteidigen. Sind Sie bereit?«
»Das bin ich.«
»Dann brechen Sie einen Stängel von mir ab, und ich werde Ihnen sagen, was Sie tun müssen. Bitte suchen Sie eine recht hübsche Blüte aus. Ich werde so gerne bewundert …«
Ich tue, was die Pflanze mir befohlen hat, und folge den gezwitscherten Anordnungen, die mich durch den silbrigen Nebel führen. Endlich stehe ich im gleißenden Sonnenlicht auf dem Pfad, der sich wie ein Band durch die Felder und Hügel von Hulne Park bis zur Kreuzung windet.
»Mit diesem Ort verbinden Sie bestimmte Erinnerungen, nicht wahr?«, fragt Rittersporn.
Ich nicke. »In glücklicheren Zeiten gingen Jessamine und ich jeden Tag hier spazieren.«
»Aber haben Sie hier nicht auch einmal einen Mord erlebt?« Die kindliche Stimme klingt plötzlich grob. »Haben Sie nicht einmal dabeigestanden und nichts unternommen?
Das Hermelin sollte Dank sagen
, das war es, glaube ich, was der edle Master Weed zu diesem Thema zu sagen hatte.«
Die Anschuldigung macht mich einen Moment sprachlos, doch dann brennen meine Wangen vor Scham. »Ein Hermelin tötete hier ein Kaninchen«, bekenne ich. »Ich erinnere mich daran. Damals dachte ich, dass nur Pflanzen so unbändig leiden können. Tiere nicht. Auch keine Menschen. Heute weiß ich es besser.«
»Tatsächlich? Woher?«
»Weil ich Leiden erlebt habe. Und weil ich ein Mensch bin«, erwidere ich. »Weil auch ich leide. Wenn ich Jessamine leiden sehe, dann leide ich ebenfalls!«
»Wie interessant!« Rittersporns helles Lachen gellt mir in den Ohren. »Ich frage mich: Was würden Sie tun, wenn so etwas heute geschähe?«
Wie auf Befehl taucht ein Hermelin unter der Hecke auf. Die Nase witternd in die Höhe gereckt, die Bewegungen aufmerksam und nervös – es ist auf der Jagd. Es huscht im Zickzack hin und her, auf der Suche nach Beute.
Ich sehe das Kaninchen, bevor das Hermelin es erblickt. Fett und ahnungslos kauert es eng am Boden und knabbert am Klee. Das Hermelin ist sofort hellwach. Es duckt sich und macht sich bereit, dem Kaninchen in den Nacken zu springen.
Alles ist so wie damals – nur dass ich diesmal nicht untätig bleibe. In meiner Hand halte ich einen Ast, den ich vom Boden aufgehoben habe. Noch ehe das Hermelin angreifen kann, schlage ich zu. Ein fester Hieb auf den Schädel, der lange Körper erschauert und liegt dann still.
Ob das Kaninchen dankbar ist oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Es
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