Die Poison Diaries
überall.
»Wir waren nicht sicher, ob Sie zurückkommen würden«, dröhnt Schweigrohr. »Wir dachten, dass Ihnen das alles vielleicht zu unangenehm sei. Zu verdorben.«
»Dann kennt ihr mich schlecht.« Meine Stimme ist tonlos vor Zorn. »Mir sind weder Stolz noch Tugend geblieben, die es zu verteidigen gälte. Ich würde mein Leben für Jessamine geben, wenn ihr es haben wolltet. Sagt mir, was ich tun muss, um sie zu retten, und ich werde es tun.«
»Wie romantisch«, knurrt Seidelbast. »Sie sprechen so edelmütig, Master Weed, aber was Sie tun müssen, um Ihre Geliebte zu retten, ist alles andere als edelmütig.«
»Wahrhaftig, die dritte Aufgabe ist die schwerste von allen«, sagt Mondsame mit seiner melodischen Stimme. »Ob Sie wohl erraten, was es ist?«
»Oh ja, er soll raten!«, ruft Rittersporn aus. »Ein Ratespiel; das wird lustig!«
Nimmt ihr böses Spiel mit mir denn kein Ende? Ich schlucke meinen Zorn hinunter und sage: »Die ersten beiden Aufgaben endeten mit dem Tod. Tod durch Untätigkeit und Tod durch fehlgeleitete Gerechtigkeit. Ich weiß, dass auch die dritte Aufgabe den Tod bringen wird – und ihr sagt, es sei die schwerste Aufgabe von allen.« Meine Stimme klingt hohl, als ob sie von weither kommen würde. »Der schlimmste Tod von allen … ist der Mord an einem Unschuldigen.«
»Er ist so klug, so klug!« Rittersporn zittert vor Entzücken. »Ich glaube gar, er ist so klug wie unser Prinz …«
»Still, Kind!«, weist Seidelbast ihn barsch zurecht. Dann richtet er das Wort an mich. »Gut geraten, Master Weed. Sie müssen einen Unschuldigen töten. Denn wenn Sie es wagen, die Macht einzufordern, die Leben rettet, müssen Sie auch die Macht zu töten Ihr Eigen nennen. Das ist die Lektion, die Sie hier im Giftgarten lernen müssen.«
»Ihr seid verrückt, etwas Derartiges von mir zu verlangen!« Meine Wut lässt sich nun nicht mehr zügeln, meine Worte sind jeder Beherrschung beraubt. »Wenn es eins gibt, das mich die Liebe zu Jessamine gelehrt hat – und auch die schlimmen Aufgaben, zu denen ihr mich gezwungen habt –, dann dies: Jegliches Leben ist bewahrenswert; alles Leben verdient Respekt und Mitgefühl. Es gibt kein Leben ohne den Tod, das stimmt, aber sinnloses Töten ist ein abscheulicher, ganz und gar widerwärtiger Akt.«
Eins von Schweigrohrs dicken, breiten Blättern fällt ab und segelt zu Boden. »Gehen Sie zur Kreuzung. Töten Sie einen Unschuldigen. Nur dann kann Ihre Geliebte gerettet werden. So will es der Giftprinz.«
Mein Atem geht schnell, mein Herz rast. Ich bücke mich, um das Blatt aufzuheben, und gleichzeitig weiß ich, dass ich verloren habe.
»Wer ist dieser Prinz?«, frage ich resigniert. »Ist er derjenige, zu dessen Vergnügen ich all diese grausamen Taten begehen musste?«
»Sie brauchen nicht zu fragen, wer er ist«, gurrt Seidelbast. »Wenn Sie sein Wohlgefallen finden, wird er sich Ihnen zu erkennen geben.«
***
Diesmal folge ich Schweigrohrs Rat. Meine Mordwaffe ist eine kleine Phiole in meiner Tasche, darin eine tödliche Mixtur aus Säften des Giftgartens, vermischt mit einem kleinen Schluck Whiskey, den ich aus MrLuxtons Schrank entwendet habe.
Ich stehe an der Kreuzung, wie es mir befohlen wurde. Menschen gehen vorbei: Bauern, Händler, Frauen und Kinder, Bettler und Pilger. Sie sind auf dem Weg zum Meer, zum Markt, zur Burg.
Wer von ihnen soll mein Opfer sein? Ist es tatsächlich an mir, eine Wahl zu treffen?
Wenn ich doch bloß wählen
könnte
! Ich denke an all die Peiniger, die ich in meinem Leben getroffen habe. Nicht nur Tobias Pratt, sondern viele andere, die in mir einen Hexer sahen, ein Monster, einen Ausgestoßenen.
Wenn einer von ihnen vorbeikäme, brächte ich es vielleicht über mich, ihn zu töten
, denke ich.
Aber das träfe dann schwerlich einen Unschuldigen.
Die Menschen gehen vorbei, einzeln, zu zweit und zu dritt. Ich schaue und warte. Und ich weine in meinem Herzen, denn was ich tun muss, um Jessamines Leben zu retten, nimmt mir das Recht auf ihre Liebe. Ich bin ihrer nicht mehr würdig. Ob sie leben oder sterben wird, ich weiß, dass ich sie verloren habe.
Verloren, für immer.
Die Unabwendbarkeit dieser Tatsache stählt mich gegen jedes Mitgefühl. Mein jüngst erst geöffnetes Herz schlägt mit einem Knall zu, gesichert mit einer Eisenkette, für deren Schloss es keinen Schlüssel gibt. Wie ehemals bin ich kalt und gefühllos, so blutlos wie die Pflanzen, die ich mein Leben lang den Menschen vorgezogen
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