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Die Portugiesische Reise (German Edition)

Die Portugiesische Reise (German Edition)

Titel: Die Portugiesische Reise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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es da sonst noch gibt, verlieren. Er wird sich einen Gesamteindruck verschaffen und sich damit begnügen, und da er in diesen Dingen kein Experte, sondern schlicht neugierig ist, wagt er es, gegen den Strich fundierter und allgemein akzeptierter Meinungen zu denken, denn dazu autorisiert ihn, dass er Augen, einen eigenen Geschmack und möglicherweise ein ausreichendes Maß an Sensibilität besitzt. So sagt er zum Beispiel, dass die Capela do Fundador, nachdem er nun einmal die Kirche betreten hat, trotz ihrer reichen Steinmetzarbeiten und ihrer harmonischen Struktur ihn in kühle Verwunderung versetzt, womit das Gefühl von Ablehnung ausgedrückt werden soll, das ihn jählings überkommt. Verstehen wir uns recht. Der Reisende hegt nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Lobpreisungen, mit denen man diesen Ort überhäuft hat, berechtigt sind, und er könnte mühelos seine eigenen hinzufügen. Da aber Vollkommenheit kein Selbstzweck ist und der Reisende ein höchst unvollkommener Betrachter, hätte er vielleicht, um sicherer sein zu können, lieber den Künstler während der langwierigen Arbeitsphase angetroffen, in der der Sieg über die Materie noch nicht vollkommen errungen war, ohne dass dies seiner Befriedigung Abbruch getan hätte. Das ist zweifellos paradox. Einerseits soll der Künstler sich vollkommen ausdrücken, die einzige Möglichkeit, zu erfahren, wer er ist – andererseits soll es ihm lieber nicht gelingen, alles zu sagen, vielleicht weil dieses alles noch ein Zwischenstadium des Ausdrucks darstellt. Gut möglich, dass manche scheinbar formalen Rückschritte letztlich nur das Resultat der beunruhigenden Feststellung sind, dass die Vollkommenheit sinnentleerend wirkt.
    Der Reisende hat den Verdacht, dass er Blödsinn gesagt hat. Hilft nichts. Diese Gefahr besteht immer, wenn man auf Reisen geht und erzählt, was man gesehen hat. Und da der Reisende hier nicht unterwegs ist, um nur zu berichten, dass die Sonne im Osten auf- und im Westen untergeht, riskiert er ein paar aufwieglerische Kommentare, die im Grunde seine rein persönliche, aufrichtige Meinung sind. Und als aufrichtiger Mensch muss er sagen, welch große Freude ihn überkommt, als er vom Eingang aus auf das Hauptschiff schaut, auf die hohen, dicken Säulen, die aus diesem Blickwinkel eine geschlossene Wand bilden und die Seitenschiffe verdecken, doch als der Reisende weitergeht, deuten sich die Abstände zwischen ihnen erst nur an, dann werden sie breiter, bis die Seitenschiffe in ihrer ganzen Tiefe sichtbar werden, bevor die Säulenwand sich wieder schließt. Das Statische wird dynamisch, das Dynamische hält inne und schöpft Kraft aus dem Stillstand. Wenn man durch diese Kirchenschiffe geht, erlebt man sämtliche Eindrücke, die ein geordneter Raum bewirken kann. Doch schon bald muss der Reisende erkennen, dass noch nicht alles gesagt ist: Drei Schwalben sind durch die Tür hereingekommen und fliegen laut zwitschernd hoch oben unter der Decke; und da übermannt ihn ein neuer Eindruck, ein langer Schauer läuft ihm über den Rücken, womit bewiesen ist, dass man immer noch weiter gehen und zu der einen Ausdrucksform eine andere hinzufügen kann, zum Gewölbe einen Vogel, zum Schweigen einen Schrei.
    Der Reisende begibt sich in den königlichen Kreuzgang. Hier hat man ein Beispiel dafür, dass der Formenreichtum wesentlich mehr auf der Ausschmückung als auf der Struktur beruht. Ohne die prächtigen Steinmetzarbeiten der Bogenfelder über verzierten schlanken Säulen, die nichts von der Last des Bogens tragen, würde sich der königliche Kreuzgang überhaupt nicht oder nur kaum von zahllosen anderen unterscheiden, deren einziger Zweck darin bestand, einen geschützten Raum zum Meditieren zu schaffen. Es ist die manuelinische Üppigkeit in Verbindung mit der gotischen Strenge, die ihm seinen ganz eigenen szenischen Wert verleiht.
    Da der Reisende zwar immer akzeptiert, dass er sich irren könnte, von sich selbst aber verlangt, konsequent zu sein, bietet sich hier die Gelegenheit, zu erklären, dass ihn der Kreuzgang von Dom Afonso V. wesentlich tiefer beeindruckt hat. Er wurde von Fernão de Évora erbaut, einem nicht sonderlich genialen Mann, doch darum geht es hier nicht. Der Kreuzgang von Dom Afonso V. hat einen ausgesprochen handwerklichen Charakter, geschaffen von jemandem, der eher zur Arbeit genutzte Innenhöfe entwirft als luxuriöse Paläste, und gerade dieser Aspekt hat den Reisenden berührt – das Rustikale von Entwurf und

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