Die Portugiesische Reise (German Edition)
wurde dieser Mann geboren? Warum ist er gestorben?« Der Reisende hat viele Fragen dieser Art, auf die es keine Antwort gibt. Dann denkt er, er hätte diesen Soldaten José Jorge vielleicht gern kennengelernt, vertrauenswürdig und schweigsam, wie er war, ein wahrer Freund, und schließlich findet er, es gibt Wunder und andere Formen von Gerechtigkeit, auch postume, die für niemanden von Nutzen sind, wie die, wenn ein Körper nach hundertvierzig Jahren unversehrt ist. Der Reisende verlässt den Friedhof, an den Regenschirm geklammert, geht hinunter in Richtung Stadtmitte und stellt sich vor, wo wohl der Galgen stand, hier auf dem Hauptplatz oder in der Nähe der Burg, oder dort am Stadtrand, und wie wohl die Hinrichtung vonstattenging, das Schlagen der Trommeln, wie er dastand, der Ärmste, mit gefesselten Händen und gesenktem Kopf, während in Rio de Onor eine Frau ein Kind gebärt und in der Igreja de Sacoias ein anderes getauft wird.
Abends besucht der Reisende Freunde und bleibt lange. Als er geht, verfährt er sich und landet auf der Straße nach Chaves. Es regnet immer noch.
Versuchungen des Teufels
Es gibt Menschen, die jedes Wort beschwören müssen, und es gibt Menschen, denen man nicht mehr als ein einfaches Ja oder Nein entlocken kann. Sagen wir, der Reisende steht irgendwo dazwischen, und nur deswegen will er keinen eidesstattlichen Schwur leisten, in Zukunft nur noch bei diesem nebligen, regnerischen Wetter zu reisen, im Herbst, wenn der Himmel sich versteckt und die Blätter fallen. Der Sommer ist ohne Zweifel immer etwas Schönes, die Sonne, der Strand, schattige Lauben, kalte Getränke, aber was ist das im Vergleich zu dieser Straße durch Wälder, wo der Nebel sich mal auflöst, mal verdichtet, mal den Blick auf den nahen Horizont versperrt, dann wieder zu einem scheinbar endlosen Tal aufreißt. Die Bäume leuchten in allen erdenklichen Farben. Wenn es eine gibt, die fehlt, beziehungsweise sich versteckt, dann ist es das Grün, und wenn es noch da ist, dann bereits in einem leichten Gelbton, der hier und da feurig rot aufleuchtet, später kommen die Erdtöne, ein blasses Kastanienbraun, dann dunkler, manchmal die Farbe von frischem oder geronnenem Blut. Diese Farben sitzen in den Bäumen, sie bedecken den Boden, es sind gloriose Kilometer, die der Reisende gern zu Fuß zurücklegen würde, selbst wenn es ein weiter Weg ist von Bragança nach Chaves, welches heute sein erstes Ziel ist.
Es wird gern behauptet, die Bäume sähen im Nebel aus wie Gespenster. Das stimmt nicht. Die Bäume, die zwischen diesen Nebelschwaden auftauchen, haben eine unglaubliche Präsenz, wie Menschen, die an die Straße kommen und den Vorbeifahrenden zuwinken. Der Reisende hält an, er blickt in das Tal, und ihm widerfährt etwas, was er nicht für möglich gehalten hätte: Er erfreut sich am Anblick dieses alles umschließenden Weiß, das später aufreißt und erneut den Blick auf den Wald freigibt, in dieser so gut wie unbewohnten Welt, die sich bis Vinhais erstreckt. Das Schönste an diesem Tag jedoch ist die Fahrt über den Rio Tuela. An die Brücke kann sich der Reisende nicht erinnern, auch an den Fluss nicht, vielleicht gerade mal an das Schäumen des Wassers zwischen den Steinen, aber das ist etwas, was einem jeder Fluss hier in der Gegend bietet. Was der Reisende zeit seines Lebens nicht vergessen wird, ist die überwältigende Schönheit des Tals an dieser Stelle, zu dieser Stunde, in diesem Licht, an diesem Tag. Vielleicht ist im August, im Mai oder schon morgen alles anders, aber jetzt, ganz genau jetzt, ist sich der Reisende bewusst, einen einzigartigen Augenblick zu erleben. Man wird ihm entgegenhalten, dass alle Augenblicke einzigartig sind, das stimmt auch, aber dann wird er antworten, dass eben auch dieser es ist. Der Nebel hat sich inzwischen gelichtet, nur über die Bergkämme schleppen sich vereinzelte Schwaden, während das Tal eine riesige grüne Wiese ist, in allen Richtungen durchschnitten und bevölkert von Bäumen, lohfarben, golden, schwarz, und es herrscht eine tiefe Stille, eine absolute, seltene, beängstigende Stille, aber das muss so sein in dieser Einsamkeit, in dieser unvergesslichen Minute. Der Reisende fährt weiter, er kann nicht immer hier bleiben, aber er könnte schwören, dass er auf eine nicht recht zu erklärende Art weiter am Straßenrand sitzen blieb und versunken die Bäume betrachtete, dieses erste Tor zum Paradies.
Zwischen Vinhais und Rebordelo regnet es ununterbrochen.
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