Die Portugiesische Reise (German Edition)
Dieser Weg ist ein Fest, an dem der Himmel teilhat, indem er alles hergibt, was er aufzuweisen hat. Zwischen den Wolken taucht das erste wässrige Blau auf, ein Zeichen für Waffenstillstand. Und als der Reisende sich Chaves nähert, ist der Himmel schon sehr viel klarer, die Wolken nutzen pflichtgetreu den starken Wind und holen den Regen ein, sie sehen aus wie Flottillen von Vergnügungsbooten, die mit weißen Segeln und mit Wimpeln geschmückt spazieren fahren. So soll es sein: Die Veiga de Chaves, die fruchtbare Ebene, hat nichts anderes verdient. Der Ort erstreckt sich über die beiden Ufer des Tâmega und zeichnet sich durch sorgsam angelegte Gemüsegärten und Goldschmiedekunst aus. Der Reisende, der aus Gegenden primitiver Landwirtschaft und rauer Urwüchsigkeit kommt, muss sich erst wieder an die Gegenwart des Fortschritts gewöhnen.
Bevor der Reisende nach Chaves fährt, macht er einen Abstecher nach Outeiro Seco, das kaum drei Kilometer nördlich liegt. Gleich am Eingang der Ortschaft steht die Kirche Nossa Senhora da Azinheira, ein romanisches Bauwerk aus dem 13. Jahrhundert, meilenweit in der Umgebung berühmt, nicht so sehr wegen ihrer architektonischen Qualitäten, das heißt vielleicht auch ein bisschen, aber vor allem, weil sie von der besseren Gesellschaft der Gegend für Hochzeiten und Taufen genutzt wird. Aus Vila Real kommt man hierher, aus Guimarães und sogar aus Porto. Nachts, wenn keine Zeugen da sind, wird es großes Gerede unter den Steinen geben, darüber, wer da war, wer geheiratet hat oder getauft wurde, wie die Braut gekleidet war und ob ihre Mutter geweint hat, wie es Mütter eben tun, wenn die Tochter den Schoß der Familie verlässt, der heute sehr viel weniger Schutz bietet als ehemals.
Der Reisende gibt sich also seinen Nullachtfünfzehn-Philosophierereien hin und hört nur mit einem Ohr dem Rest der Erläuterungen der Frau mit dem Schlüssel zu, die in einem Häuschen zweihundert Meter weit entfernt wohnt, als sich hinter der Kirche plötzlich ein lautes Klagen erhebt, ebenfalls die Stimme einer Frau, ein herzzerreißendes Geheul, wie ein sich selbst anklagendes jammern. Dem Reisenden und auch den Figuren auf den Fresken an der Mauer, so könnte er schwören, laufen Schauer über den Rücken. Verwundert sieht er die Frau mit dem Schlüssel an und wundert sich noch mehr, als diese ein spöttisches Lächeln aufsetzt, das weder dem Ort noch der Situation gerecht wird. »Was ist das?«, fragt er. Und die Frau mit dem Schlüssel antwortet: »Ach, nichts. Eine Frau, deren Tochter gestorben ist und die jetzt jeden Tag zum Weinen auf den Friedhof kommt. Etwas übertrieben. Und wenn sie merkt, dass jemand kommt, fängt sie mit ihrem Geschrei an.«
Das waren durchaus Schreie, die da zu hören waren. Der Reisende hat keine Augen mehr für die Kapitelle. Er geht hinaus auf den Kirchhof und zum Friedhof, der sich, wie schon erwähnt, auf einem etwas tiefer gelegenen Gelände hinter der Kirche befindet. Dort steht eine Frau, die weint, jammert und schreit, und als der Reisende näher kommt, bemerkt er, dass sie eine Art Rede hält, wahrscheinlich immer dieselbe, es ist fast eine Anrufung, ein Zauberspruch, eine Beschwörung. Die Frau hat eine Fotografie in der Hand, zu der sie spricht und klagt. Von der Mauer aus, wo der Reisende steht, kann er trotz seiner schlechten Augen sehen, dass die Person auf der Abbildung ein sehr junges, hübsches Mädchen ist. Er ist so frei, sich nach dem Unglück zu erkundigen, und erfährt von der Geschichte einer Tochter, die den Schoß der Familie verlassen hatte und ausgewandert war, nach Frankreich, wo sie heiratete und mit achtzehn Jahren starb. Während er ihr zuhört, schwört er, nie wieder einen Fuß in die Nähe eines Friedhofs zu setzen, zumindest nicht auf dieser Reise. Wie traurig und ungerecht die Welt doch war, erst ein unschuldig gehängter Soldat, dann ein Mädchen in der Blüte seiner Jugend. Und da das Geld nicht vom Himmel fällt, vergisst die weinende Mutter auch nicht zu erwähnen, dass allein der Transport der Leiche von Hendaye nach Portugal vierzig Contos gekostet hat. Der Reisende entfernt sich äußerst betrübt, gibt der böswillig lächelnden Frau mit dem Schlüssel ein paar Münzen und macht sich auf den Weg nach Chaves. Es ist Mittagszeit.
Die Stadt ist handlich, das heißt von den Ausmaßen her klein, aber groß genug, um gut darin leben zu können. Alles führt auf den Largo da Arrabalde, und von dort geht alles aus. Der
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