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Die Portugiesische Reise (German Edition)

Die Portugiesische Reise (German Edition)

Titel: Die Portugiesische Reise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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oder weniger viel lehren. Der Reisende würde gern bei der ältesten anfangen und dann durch die Historie bis zur jüngsten gehen. Abgesehen von ein paar bekannten Göttern und etlichen römischen Kaisern sind alle anderen unbekannt, namenund gesichtslos. Für jeden Gegenstand gibt es eine Bezeichnung, und der Reisende stellt verblüfft fest, dass die Geschichte der Menschheit letztlich die Geschichte dieser Gegenstände und ihrer Bezeichnungen ist sowie der Beziehungen zwischen beiden, ihrer Benutzung und Nichtmehrbenutzung, des wie, wozu, wo und von wem sie angefertigt wurden. So betrachtet, ist die Geschichte nicht mehr vollgestopft mit Namen, sondern die Geschichte des konkreten Handelns, des Denkens, das dieses bestimmt, des Handelns, das das Denken bestimmt. Es wäre schön, wenn man diese Bronzeziege oder diese anthropomorphe Platte befragen könnte, diesen Fries oder diese in Óbidos, so nah bei Carvalhal, gefundene Quadriga. Um nachzuweisen, dass es möglich und notwendig ist, die Dinge zueinander in Beziehung zu setzen, um sie verstehen zu können.
    Der Reisende tritt auf die Straße und ist ratlos. Wohin soll er sich wenden? Welche Orte besuchen? Welche anderen, aus freiem Entschluss oder weil er unmöglich alles ansehen und über alles sprechen kann, weglassen? Und was heißt alles ansehen? Durch die Grünanlage hinunterschlendern und die Schiffe auf dem Fluss ansehen wäre genauso gerechtfertigt wie ins Kloster Jerónimos gehen. Oder aber keins von beidem, stattdessen sich auf eine Bank oder den Rasen setzen und die herrlich strahlende Sonne genießen. Man sagt, ein Schiff, das vor Anker liegt, ist nicht auf Reisen. Ist es auch nicht, aber es bereitet sich darauf vor. Der Reisende füllt die Lunge mit der frischen Luft, wie ein Schiff die Segel für den Wind auf offener See hisst, und macht sich auf den Weg zum Kloster Jerónimos.
    Es passte, dass er Bilder aus der Seefahrt benutzt hat. Gleich linker Hand am Eingang befindet sich Vasco da Gama, der den Weg nach Indien entdeckt hat, und rechter Hand die liegende Skulptur von Luís de Camões, der den Weg nach Portugal entdeckt hat. Camões’ Gebeine liegen nicht hier, niemand weiß, wo sie geblieben sind; die von Vasco da Gama liegen hier, vielleicht aber auch nicht. Angeblich echte Gebeine liegen weiter hinten rechts, in einer Kapelle des Querschiffs: Dort befinden sich (tatsächlich?) die sterblichen Überreste des hier schon mehrfach erwähnten Dom Sebastião. Doch nun ist es genug mit Gräbern – das Kloster Jerónimos ist kein Friedhof, sondern ein Wunderwerk der Architektur.
    Die Architekten der manuelinischen Zeit haben sehr viel gebaut. Doch nie etwas Vollkommeneres als die Kuppel des Hauptschiffs, nie etwas so Kühnes wie die des Transepts. Der Reisende ist überwältigt. Wie oft hat er die natürliche Schönheit des nahezu unbearbeiteten Steins gepriesen, doch nun erliegt er der detailreichen, wie federleichte Spitzen anmutenden Dekoration der für das Gewicht, das sie tragen, unglaublich schlanken Säulen. Und erkennt, wie genial es war, an jeder Säule ein Stück unverziert zu lassen – der Architekt, denkt der Reisende, wollte der ursprünglichen Schlichtheit des Materials die Ehre erweisen und gleichzeitig ein Element einsetzen, das die Trägheit des Blicks stören und ihn stimulieren soll.
    Endgültig jedoch streckt der Reisende sämtliche Waffen unter der Kuppel des Transepts. Fünfundzwanzig Meter hoch über einer Fläche von neunundzwanzig mal neunzehn Metern. Hier trägt keine Säule, kein Pfeiler die in einem einzigen Bogen sich aufschwingende Kuppel. Wie ein umgedrehter mächtiger Schiffsrumpf zeigt das schwindelerregende Gewölbe sein Spantenwerk, erfüllt beim Anblick seiner inneren Struktur den Reisenden mit solchem Staunen, dass dieser fast niederkniet, um denjenigen zu preisen, der dieses Wunder ersonnen und erbaut hat. Noch einmal geht er ins Hauptschiff, wieder ist er überwältigt vom Anblick der schlanken Säulen, die an ihrem oberen Ende wie Palmen die Gewölberippen in sich bündeln oder aus sich sprießen lassen. Der Reisende wandelt auf und ab, zwischen Touristen, die die Sprachen der halben Welt sprechen, und währenddessen findet eine Trauung statt, der Priester spricht die üblichen Worte, alle sind zufrieden, mögen sie glücklich werden und die Kinder bekommen, die sie sich wünschen, doch nicht vergessen, sie die Schönheit dieses Gewölbes lieben zu lehren, das ihre Eltern kaum beachten.
    Der Kreuzgang ist

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