Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Praktikantin

Die Praktikantin

Titel: Die Praktikantin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
unscharfe Foto eines vielleicht fünfunddreißig, sechsunddreißig Jahre alten Mannes mit stark gegelten Haaren und einem missglückten Dreitagebart.
    »Johann Walder ist ab sofort neuer Chefredakteur der Wützener Zeitung. Er tritt die Nachfolge von Willi Struck an, der nach fast zwei Jahrzehnten in den wohlverdienten Ruhestand gegangen ist. Johann Walder kommt aus München nach Wützen. Dort war er zuvor unter anderem Politikchef und stellvertretender Chefredakteur der
Metro-News
. ›Ich freue mich sehr auf die neue Aufgabe in Wützen und bei der Wützener Zeitung‹, sagt Walder. ›Ich glaube, dass man gerade in kleineren Einheiten sehr viel bewegen kann, und sehe den nächsten Monaten mit großen Erwartungen entgegen.«
    |53| Das Foto sendete eine andere Botschaft.
    »Guck mal, Mausi, die haben einen Neuen. Vielleicht kriegste jetzt dort ein Praktikum«, hatte Oma danebengeschrieben. Sie würde mich noch Mausi nennen, wenn ich selbst schon Kinder hätte.
    Ich hatte mich zum ersten Mal vor etwa einem halben Jahr bei der
Wützener Zeitung
für ein Praktikum beworben. Damals bekam ich einen standardisierten Absagebrief, in dem sogar ein anderer Name stand: »Sehr geehrte Frau Kruse, vielen Dank für Ihr Interesse an unserer Zeitung. Es tut uns leid, wir nehmen grundsätzlich keine Praktikanten.« Mein Vater fragte noch einmal bei einem Redakteur nach, der bei ihm Patient war, aber die Antwort blieb die gleiche. Früher hätte es in der Redaktion immer mehrere Praktikanten geben, jetzt wolle der Chefredakteur keine mehr. Vielleicht, hatte mein Vater gesagt, weil er an ihnen sehen würde, wie alt er geworden ist. Er war vierundsechzig.
    Für mich war die Absage ärgerlich, weil ich fest damit gerechnet hatte, bei der
Wützener Zeitung
ein Praktikum machen zu können, und weil ich damals angesichts der letzten Prüfungen im Studium keine Zeit hatte, mich um etwas anderes zu kümmern. Martin hatte sich gefreut. Er wollte nämlich unbedingt, dass ich nach dem Ende meines Studiums für ein paar Wochen zu ihm nach Polen kam, wo er für die Unternehmensgruppe seines Vaters ein Callcenter mit deutschsprachigen Angestellten aufbaute. Der Familie gehörte eine mittelgroße Versandhauskette, die langfristig telefonische Bestellungen und Beschwerden komplett über die Außenstelle in der Nähe Warschaus abwickeln wollte. Dort waren die Löhne nur etwa halb so hoch wie in Deutschland.
    Ich hatte keine Lust, bis Martin mir über den polnischen Geschäftspartner, den sein Vater pro forma am Callcenter beteiligt hatte, den Kontakt zu einer deutschen Zeitung in Warschau herstellte. Dort bekam ich nach einer kurzen Mailanfrage sofort die Zusage für ein Praktikum. Martin war glücklich, ich zog für fast |54| drei Monate in sein unfassbar billiges Penthouse und arbeitete in der Redaktion, die leider nur aus einer Sekretärin und dem Chefredakteur bestand. So nett der am Anfang wirkte, so aufdringlich wurde er mit der Zeit. Erzählte mir stundenlang von seiner Frau, die sich gerade von ihm getrennt hatte und mit dem zweijährigen Sohn zurück nach Deutschland gegangen war. Legte mir bei der Besprechung von Texten gern die Hand auf die Schulter, tätschelte mir einmal sogar die Wange. Ich war es aus meiner Zeit als Kellnerin in einem Bistro in Wützen gewohnt, angebaggert zu werden, zuallererst vom Chef. Aber hier in Polen, abends allein in der Redaktion, war das etwas anderes. Es hörte erst auf, als Martin mich regelmäßig abholte.
    Trotzdem hatte mir die Arbeit Spaß gemacht, die Recherche, die Interviews mit so vielen unterschiedlichen Menschen und das Schreiben. Als ich aus Polen nach Wützen zurückkam, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Berufswunsch. Ich wollte Journalistin werden.
    Doch es war schwer, überhaupt in die Branche hineinzukommen. Ich hatte mich bei fast fünfzig Zeitungen und Zeitschriften für ein Praktikum beworben, bei den meisten Absagen erhalten oder war auf eines der nächsten Jahre vertröstet worden. Den Platz beim
Badischen Kurier
hatte ich einem Bewerber zu verdanken, der anderswo ein Volontariat zugesagt bekommen hatte. Aber dort konnte ich erst in vier Wochen anfangen. So lange war ich gezwungen, wieder in mein altes Kinderzimmer zu ziehen. Denn weder in Warschau noch beim
Badischen Kurier
noch sonst in irgendeinem Praktikum gab es Geld zu verdienen. Ich war ein Teil dieser Generation, über die in der
Zeit
und im
Spiegel
seitenlange Dossiers standen. Wann immer ich über die gut

Weitere Kostenlose Bücher