Die Praktikantin
ausgebildeten jungen Deutschen las, die die Uni mit Prädikatsexamen verlassen hatten und danach statt eines ordentlich bezahlten Jobs nur gar nicht bezahlte Praktikumsplätze bekamen – Zitat eines Soziologen: »Und das sind die, die Glück haben« –, sah ich mich: sechsundzwanzig Jahre alt, abgeschlossenes |55| Geschichts- und Literaturstudium mit der Note 1,3, das Angebot für eine Doktorandenstelle immer noch irgendwo in einem meiner Ordner. Andere waren in diesem Alter längst verheiratet, meine Schulfreundin Anne, die eine Lehre als Groß- und Außenhandelskauffrau gemacht hatte, hatte sogar ein Kind. Ich lebte von meinen Ersparnissen, die zu nicht unwesentlichen Teilen aus den Zinsen und Zinseszinsen des Geldes bestanden, das ich zu meiner Konfirmation bekommen hatte, und von den 400 Euro, die mir mein Vater jeden Monat überwies. Während des Studiums hatte ich in einer Vierer-WG in einem Münchner Vorort gelebt, jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als wieder bei meinen Eltern unterzuschlüpfen. Zum Glück hatten die mein Kinderzimmer nicht vermietet. Selbst die Wohnung von Urgroßmutter war noch so, als würde sie dort leben. Dabei war sie vor fast acht Jahren mit vierundneunzig gestorben. »Wir brauchen den Platz nicht, Mausi«, sagte mein Vater immer, wenn ich ihn darauf ansprach. »Deshalb lassen wir alles so, wie es ist.« Und meine Oma, die sich früher mit Urgroßmutter die eine Hälfte unseres Hauses geteilt hatte, wollte auf keinen Fall, dass über ihr ein Fremder einzog.
Sie war jetzt fünfundachtzig, stand jeden Morgen um 6 Uhr auf, machte Gymnastik zu TV-Sendungen, die ich nicht einmal vom Namen her kannte, und las danach jedes einzelne Wort, das in der
Wützener Zeitung
stand. Als Erstes die Todesanzeigen.
Ohne sie wäre ich nicht auf die Idee gekommen, mich dort noch einmal zu bewerben. Nun war die
Wützener Zeitung
nicht die
Metro-News
oder der
Tages-Merkur
, von denen ich innerhalb von zweiundsiebzig Stunden Absagen bekommen hatte. Aber ein Mitglied der Generation Praktikum muss nehmen, was es bekommt. Mit jedem Praktikum wächst nicht nur der Lebenslauf, sondern auch die Chance auf einen echten Arbeitsplatz und ein Gehalt. Ich musste mich bei Oma bedanken und ihr von Herrn Walder erzählen.
|56| Sie war mit Mama im Garten. Die beiden drehten mir ihre Hinterteile zu, hatten die Rücken nach vorn gekrümmt und auf dem Stuhl zwischen sich eine Packung Toastbrot liegen, das
Stiftung Warentest
mit »Gut« beurteilt hatte. »Ja komm, ja komm«, zwitscherte meine Mutter, und meine Oma sagte mit einer etwas klareren Stimme: »Er traut sich nicht, sie muss immer alles holen.«
Das Entenpaar konnte ich erst sehen, als ich an meiner sich plötzlich nach hinten bewegenden Mutter rechts vorbeisprang und dabei an eine Harke stieß, die umfiel und einen Blumentopf vom Gartentisch fegte. Er zerbrach, die Enten schnatterten aufgeregt, tapsten zwei, drei Schritte und flogen davon.
»Mausi«, meine Mutter war wirklich empört, »was machst du denn für einen Krach? Jetzt sind die beiden weg. Dabei waren die so niedlich.«
»Entschuldigung. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ihr Enten füttert.« Ich hätte es schon ahnen können: Mama und Oma hatten eine Schwäche für Tiere. In unserem Garten lebten acht Kaninchen, ein Huhn und ein Hahn, zwei Gänse und drei Hunde. Daniela, meine beste Freundin aus Kinderzeiten, hatte ihren Eltern einmal auf die Frage, wo sie denn zum Spielen hinwolle, geantwortet: »Zu den Renners, in den Zoo.« Daran hatte sich wenig geändert.
»Wie gesagt: Entschuldigung. Ich wollte mich nur kurz bei Oma bedanken und vom Bewerbungsgespräch bei der Wünzigen erzählen.«
»Ist es gut gelaufen, Mausi? Ich hab dir so die Daumen gedrückt«, sagte Oma und stupste mit ihren braunen Schuhen ein Stück Entenkot von ihrer Terrasse.
»Ich kann da Montag anfangen.«
»Wenn das kein Grund für ein Sektchen ist«, sagte Mama. Den tranken die beiden jeden Mittag, auch völlig ohne Grund, wenn Mama das Essen für meinen Vater vorbereitete. Diesmal stellte sie drei Gläser auf den Küchentisch.
|57| »Nun sag schon, wie war es?«
»Ich habe fast eine Dreiviertelstunde mit dem neuen Chefredakteur, dem Herrn Walder, zusammengesessen. Fand ich ganz schön lang für ein Gespräch mit einer Praktikantin. Aber der schien nichts anderes vorzuhaben. Du, Mama, der ist noch nicht mal vierzig und schon Chefredakteur.«
»Muss ja ein tüchtiger junger Mann sein«, sagte Oma. »Ob wohl ich ihn auf
Weitere Kostenlose Bücher