Die Praktikantin
erzählen, was sein Stellvertreter …«
»Das tust du nicht.« Mama sah entsetzt auf. »Eine Praktikantin |88| ruft nicht den Chef an, wenn er auf einem wichtigen Kongress ist, und petzt, dass ihr irgendetwas in der Redaktion nicht gefällt. Du bist das letzte Glied in der Nahrungskette, vergiss das nicht. Du hast deine Arbeit zu machen und sonst gar nichts. Haben wir uns verstanden?«
Wir hatten uns verstanden, bis am Abend um kurz nach 9 Uhr das Telefon piepste. Ich wollte gerade zusammen mit meiner Mutter den zweiten Teil einer Rosamunde-Pilcher-Verfilmung sehen. Am anderen Ende war mein Chef. Ich deutete Mama an, den Fernseher leiser zu machen, und drückte auf die Lautstelltaste unseres Telefons. Auf den Rand der TV-Illustrierten schrieb ich: »Das ist Herr Walder …« Sie machte den Fernseher aus.
Als wir uns nach zwei Gesprächen und fast einer Stunde Telefonieren endgültig voneinander verabschiedeten, wagte meine Mutter zum ersten Mal, das Sofa zu verlassen: »Ich muss schon die ganze Zeit auf Toilette.« Der Akku des Handys war fast leer. Als sie wiederkam, hatte sie eine neue Flasche Landwein mitgebracht. Sie schenkte mir auch ein Glas ein.
»Da hast du ja wirklich einen außergewöhnlichen Chef, Mausi. Was der dir zutraut. Ich habe zwar nicht alles verstanden, weil der so schnell redet und nuschelt, aber …«
»Aber der ist doch echt nett, der Herr Walder, oder? Ruft persönlich bei mir an, um mir einen Termin zu geben, und beauftragt mich auch noch mit so einem wichtigen Projekt.«
»Bisschen komisch finde ich es aber schon, dass er so spät abends bei einer Praktikantin anruft. Hätte er das nicht auch alles mit dir morgen in der Redaktion besprechen oder dich einfach von seiner Sekretärin benachrichtigen lassen können?«
»Der hat doch gar keine eigene Sekretärin.«
»Trotzdem. Außerdem wirkte er nicht gerade so, als wolle er nur kurz eine Nachricht loswerden. Eher wie einer, der zu viel Zeit hat und mal wieder reden will. Mausi, ihr habt über eine Stunde telefoniert. Erzählst du das Martin?«
|89| »Warum denn nicht? Mensch, Mama, das ist mein Chef, da ist nun wirklich nichts dabei, wenn der mich mal anruft.«
In Wirklichkeit hatte ich mich auch darüber gewundert, dass das Gespräch mit Walder so lang geworden war. Wenn ich während meines Studiums mit meinem vermeintlichen Doktorvater telefoniert hatte, waren wir immer nach wenigen Minuten fertig gewesen. Bei Walder hatte ich wie Mama den Eindruck gehabt, dass er nicht auflegen wollte.
»Vielleicht ist der hier bei uns in Wützen einfach nur einsam, dein Chef. Die Frau van Daggelsen, bei der er im Dachgeschoss wohnt, hat mir erzählt, dass er so gut wie nie telefoniert und dass er nicht einmal von einer Frau oder Freundin gesprochen hat.
Dabei bringt sie ihm hin und wieder ein Stück ihrer Karotten-Ingwer-Torte vorbei, um mal mit ihm ins Gespräch zu kommen. So ein Chefredakteur hat doch bestimmt Chancen bei vielen Frauen, oder?«
Typisch meine Mutter.
»Das weiß ich nicht, und das interessiert mich auch nicht, Mama. Für mich ist er auf jeden Fall nichts, wenn du darauf anspielen willst.«
Sie hatte immer davon geträumt, dass ich einen älteren, erfolgreichen Mann kennenlerne. Martin war zwei Monate jünger als ich und hatte mit Mühe und einer Note von 3,1 das Abitur gemacht. In Hamburg.
»Mausi, was du immer gleich denkst. Aber eine angenehme Stimme hat er, dein Herr Walder.«
»Das ist nicht mein Herr Walder. Das ist nur mal ein Chef, der eine Praktikantin ernst nimmt, mehr nicht.«
»Ruft er denn die anderen Praktikanten auch mitten in der Nacht an?«
»Die Wünzige hat im Moment gar keine anderen Praktikanten.«
»So, so.« Über ihre Gleitsichtbrille sah meine Mutter mich |90| an, als würde ich ihr verheimlichen, dass ich längst ein Kind von Walder erwarte.
»Na ja, ich will mich nicht in deine privaten Angelegenheiten einmischen. Ich geh dann mal ins Bett.« Sie trank den letzten Schluck Wein aus ihrem Glas, steckte den Korken zurück in die Flasche und brachte sie in den Kühlschrank. Als sie fast schon im Schlafzimmer war, drehte sie sich noch einmal um: »Ach ja, Mausi: Weck mich, wenn dein« – sie malte mit Mittel- und Zeigefinger zwei Anführungszeichen in die Luft – »Chef noch einmal anrufen sollte.«
Ich zeigte ihr einen Vogel, sah das Schulverzeichnis im schmalen Wützener Telefonbuch durch und schrieb mir die wichtigsten Nummern raus. Ich wollte Martin noch von meiner neuen Aufgabe erzählen,
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