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Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Armlängen von ihr entfernt stand etwas hinter einem Baum; deutlich umriß die Sonne einen Körper auf dem Boden: Beine, Arme, gebeugter Rücken. Das Wesen hielt ein Ding in der Hand, ein langes, spitzes Ding.
    Mit angehaltenem Atem schob Alena das Messer in die Gürtelscheide, raffte ihr Kleid bis zu den Knien. Dann warf sie sich herum und rannte los. Sie stolperte über Äste, riß sich Hände und Gesicht an dornigen Zweigen wund, sprang über Stämme und Steine hinweg. Schließlich duckte sie sich hinter einen Strauch, spähte keuchend zwischen den Blättern hindurch.
Wittwittwitt
sang der Baumpieper über ihr wieder,
zizizizi-wittwittwitt
. Eine Blattwespe putzte sich dicht neben Alenas Wange den grünen Körper, fuhr mit den Beinen über die glänzenden Flügel.
    Ihr war niemand gefolgt.
    Sie hob das Gesicht hinauf zu den Sonnenfunken, die durch das Blattwerk blitzten. »Bewahre mich, Svarožić«, sagte sie leise, »was auch immer dort ist, bewahre mich.«
    Atemlos traf sie bei den Kriegern ein. Es herrschte Aufbruchstimmung. »Wo warst du so lange?« knurrte Mstislav.
    »Nicht viele Pilze hier. Ich mußte lange suchen. Hatten Nakon und Rostislav Erfolg?«
    »Einen Dachs haben sie erlegt.«
    Sie nickte nur, und sobald sich die Krieger in Bewegung setzten, trottete sie neben Nelet her wie jeden Tag seit dem Aufbruch aus Rethra. Über die Erscheinung mochte sie nicht reden, schämte sich für ihre Furcht. Andererseits: Wenn sie jemanden fragen konnte, dann Nelet.
    Er war ein Mann ohne Gesicht. Schaute sie ihn an, hatte sie Augenblicke später wieder vergessen, wie er aussah. Sie hatte einmal von ihm geträumt: Statt des Kopfes trug er eine graue, unförmige Pfütze auf den Schultern, ein Wabern, eine Wasserwolke.
    Nie versuchte er, Alena in ein Gespräch zu ziehen, feixteauch nicht wie die anderen, wenn sie hinter den Büschen ihre Notdurft verrichtete. Es schien fast, als kümmere ihn ihre Anwesenheit überhaupt nicht, als wäre es ihm gleichgültig, ob sie da war oder nicht. Einmal allerdings, als die Redarier von einem Platzregen überrascht worden waren und auch ihr die Kleider am Leib klebten, hatten die Männer begonnen, begehrliche Blicke auf sie zu werfen und im Scherz zu schmatzen, als hätten sie einen gebratenen Schwan auf dem Tisch, und Nelet, der Schweigsame, der Gesichtslose, fuhr aus der Haut, ging mit erhobener Axt auf die Lüstlinge los: »Die Nawyša Devka! Wie könnt ihr es wagen!« Die Wut des Stillen erschreckte die Krieger sehr. Sie schluckten ihre Gier herab, begehrten nur mehr kraftlos auf, ergeben wie bestrafte Hunde.
    »Nelet«, fragte sie im Laufen, »wenn es still wird im Wald, wenn die Vögel ihren Gesang unterbrechen – woran liegt das?«
    »Die Vögel fürchten einen Habicht am Himmel.«
    »Und sie schweigen dann, damit er sie nicht entdeckt?«
    »Denke so.«
    »Mit den Polaben hat Rethra Frieden, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Und von Bardowick sind wir drei Tagesreisen entfernt, ungefähr?«
    Nelet hob den Kopf. Er sah Alena von der Seite an. »So hat es Mstislav heute morgen gesagt.« Eine Frage schwang in seiner Antwort mit.
    »Mache mir zu viele Gedanken, ich weiß. Manchmal bilde ich mir Schatten ein – wie ein kleines Kind.«
    Sie verlegte sich aufs Beobachten, um sich abzulenken. Jeder der Krieger ging einen anderen Schritt. Da war Nakon der Eber. Er schlurfte über den Boden, schob Laub und kleine Zweige mit den Fußspitzen vor sich her und drehte sich in der Hüfte. Es mochte mit seinem Körperumfang zusammenhängen. Witzan stieß mit jedem Schritt den langen Axtstiel nach vorn, als wollte er einen Bären erstechen.Der Kopf der Axt hing dabei ein wenig herab, obwohl er den Stiel weit vorn umgriffen hielt. Rostislavs Arme holten weit aus beim Gehen. Der Holzschild, den er sich auf den Rücken geschnallt hatte, schwankte wie ein herrenloses Boot in den Wellen. Und Mstislav, o Mstislav – auf seinem Stiernacken würden junge Bäume zerbrechen. Wenn er es nur wollte, könnte er mit den Fäusten Wasser aus Steinen quetschen. Trotzdem glichen seine Schritte denen eines unscheinbaren Halbwüchsigen. Mit eben der Keule, die er jetzt in der Rechten trug, hatte er einmal ein mächtiges Ur erschlagen; immer wieder erzählte man sich die Geschichte in Rethra.
    Warum blieb er jetzt stehen? Mstislav breitete die Arme aus und bedeutete den Nachfolgenden mit einem leichten Wink der Linken stehenzubleiben. Alena schluckte. Sie sah ihn das Beil aus dem Gürtel ziehen, sah, wie er sich nach

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