Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
mit zügigen Schritten auf den Tempel zu.
Die Drohung des Wachpostens kreischte durch ihre Gedanken: »Wenn du Dummheiten machst, schneide ich dir die Nase ab!« Er würde das nicht tun. Barchan schon. Sie durfte sich nicht fangen lassen, koste es, was es wolle. Sah ihre Flucht nicht auch wie ein Schuldbekenntnis aus? Spielte sie gerade Barchan den entscheidenden Beweis in die Hände?
Die geschnitzten Geister, die den Tempel bewachten, schienen ihr mit den Augen zu folgen. Sie reckten die spitzen Zungen, feuchteten die Zähne an. Gerade daß sie so regungslos dastanden, machte sie bedrohlicher, ließ sie als lauernde Dämonen erscheinen, die nur darauf warteten, daß Alena ihnen den Rücken zukehrte.
Nicht auf der Ostseite! Beim Seetor standen Gardisten. Alena wandte sich nach Westen, hielt sich nahe bei den Geistern an der Tempelwand. Noch schrie niemand, noch hörte sie keine Verfolgerfüße.
Endlich die Ecke. Alena legte das letzte Stück im Laufschritt zurück. Hinter dem Tempel zwängte sie sich in die enge Gasse zwischen der Tempelwand und dem Heiligen Stall. Ihre Brust hob und senkte sich, Schweiß stand ihr auf der Stirn. Hier würden sie sie nicht vermuten.
Ein wütender Ruf gellte durch die Burg. Rufe von den Mauern antworteten.
Die Suche begann. Am besten würde es sein, wenn sie hier bis zur Morgendämmerung wartete. Vater würde nicht damit rechnen, daß sie es wieder am Seetor versuchte, wo schon Uvelan gescheitert war. Sie würde hinausschlüpfen, während Jarichs Sohn auf das Wasser hinausfuhr, und dann würde sie im Wald einen großen Bogen um die Burg machen, um mit dem Strom der Neuankömmlinge für das Opfer unbemerkt in die Vorburg –
Stimmen näherten sich. Sie kamen hinter den Tempel?
»Das verstehe ich nicht.« Es war die Stimme des Wachpostens. »Wie kommst du darauf, daß sie hier hinter dem Tempel versteckt sein muß?«
»Sie will zu den Gefangenen.« Barchans Stimme.
»Und?«
»Die Tore sind gut bewacht, also gelangt sie nur über die Mauer in die Vorburg. Wann kann sie hoffen, dabei nicht bemerkt zu werden?«
»In der Nacht.«
»Und wo kann sie bleiben bis zur Nacht und hoffen, daß niemand zufällig ihr Versteck besucht?«
Ein Laut des Erstaunens ertönte.
Hätte sie ein paar Tage gefolgsam am Webstuhl gesessen, hätte den Mund gehalten, hätte ein treues Gesicht gemacht! Wohin sollte sie jetzt fliehen? Liefe sie um den Tempel herum, würde man sie am Seetor aufhalten. Und der Heilige Stall – nein, wenn sie sich der weißen Stute des Dreiköpfigen näherte, würde Svarožić sie durch einen Erdspalt in die Unterwelt schicken, oder er würde sie zergehen lassen als leblosen Nebel.
Die Stimmen hatten die Ecke erreicht.
»Ich habe ihr gesagt, ich würde ihre Nase abschneiden.«
»Das werden wir auch tun, und nicht nur das. Ich muß noch Nevopors Einverständnis gewinnen, aber das dürfte nicht schwer sein, wenn wir ihm in den passenden Worten von ihrem Fluchtversuch berichten. Er haßt Verrat.«
Alena faßte sich an die Nase. Ein flaches, entstelltes Gesicht mit zwei häßlichen Löchern in der Mitte, jedesmal, wenn sie in eine Pfütze schaute? Der Stall war die einzige Möglichkeit. Sie schlich zum kleinen Tor, öffnete es und schob sich durch den Spalt hinein.
Mit geschlossenen Augen preßte sie sich gegen die hölzerne Wand. »Bitte vergib mir, Svarožić!« flüsterte sie. »Ich werde die Wohnung der Weißen nicht anschauen, und ich verschwinde von hier, sobald ich kann. Siehst du, daß ich ganz nah am Tor bin und mich flach gegen die Wand drücke? Ich bin so gut wie gar nicht hier drinnen. Bitte verschone mich!«
Alena erwartete ein Beben unter ihren Füßen, wartete darauf, daß der Boden aufriß und sie hinabfiel. Nichts geschah. Sie befühlte ihre Arme, ihr Gesicht, ohne dabei die Augen zu öffnen.
Warm war es. Und es roch nach Pferdemist. Ein Huf scharrte durch Stroh, klopfte genügsam auf den Boden. Nüstern schnaubten.
Alena summte ein Lied, um sich zu beruhigen. Ardagost und Dobemysl, hauchte sie, schlafen unterm Brombeerstrauch.
Eisen rasselte leise. Ihr stockte der Atem. Wenn das Svarožić war? Wenn der Dreiköpfige vor ihr stand in seiner Rüstung, alle sechs Augen auf sie gerichtet, den riesenhaften, goldenen Schild in der Hand und das Schwert über sie gehoben? Wenn das erste Gesicht grimmig auf sie herabschaute und das zweite kalt, wenn das dritte Gesicht sie zornig musterte?
Prall gefüllt mit süßen Früchten ist ihr Traum und siesind’s
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