Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
flogen von Ohr zu Ohr.
Schlimmer als all dieses aber waren die Kinder. Ihre apfelgroßen Augen blickten Alena am Rand der Treppe ehrfürchtig entgegen. Die Kinder verurteilten nicht. Sie wagten es nicht einmal zu fragen. Verstehen konnten sie nicht, was hier geschah, aber auch die Kleinsten begriffen, daß man Alena weh tat, und so standen sie mit offenen Mündern und mitleidig emporgezogenen Brauen, zuckten zusammen, wenn sie einen Schrei hervorwürgte, weil Barchan nachgefaßt hatte. Die Jüngsten begannen mit ihr zu weinen, schrien und heulten, als würde man sie selbst quälen. Hätte sie es gekonnt, Alena hätte sich gern versteckt. Sie fühlte sich, als bräche sie wie ein böser Geist in die Welt der Kinder ein. Sollten sie nicht spielen, über die Wiese tollen, sich mutig den Pferden nähern und ihnen selbstgerupftes Gras auf der flachen Hand anbieten?
Barchan zerrte Alena über eine Seitenrampe von der Treppe herunter. Vor einem der Gardistenhäuser standen zwei Wachposten. Ein neues Haus, dessen Balken noch hell waren, weil Regen und Wind sie noch nicht lange genug bearbeitet hatten; das erste Moos sproß in zögerlichen, kleinen Hälmchen in den Winkeln. Die Gardisten husteten Warnungen in die Menge, hoben drohend die schweren Äxte.
Warum quoll Rauch aus dem Giebelloch? Es war Sommer!
Mit einem Fußtritt öffnete Barchan die Tür. »In der Ecke beim Ofen liegt Seil«, wies er einen seiner Begleiter an. »Schaff es heran, daß wir diese Bestie binden.«
Ein unmenschlicher Schrei brandete aus dem Haus, und der Beauftragte stockte auf dem Weg zur Türöffnung.
»Rede!« sagte eine Stimme, die Alena an Cozilo erinnerte, Mieskos Sohn.
»Aufhören«, befahl Barchan.
Im gleichen Augenblick gab es erneutes Jaulen.
Bald darauf erschien Cozilo im Türrahmen. Er hielt einen Dolch in der Hand, dessen Spitze rötlich-weiß glühte. Seine breite Stirn lag in Falten.
Barchan fauchte: »Was hast du getan?«
»Er wollte nicht antworten.«
Alena entsann sich Bruns, wie er geschlafen hatte, während das Feuer die letzten Flammenlichter auf seinem Gesicht zur Ruhe legte: den Arm unter das Ohr geschoben, hingegeben an die Nacht, als vertraute er ihr kindlich, Zucken in den Mundwinkeln.
Barchan nickte zur Tür, und zwei Männer verschwanden im Haus. Sie kehrten mit Tietgaud zurück, zerrten ihn ins Licht. Der Mönch kniff die Augen zusammen. Der helle Gürtel mit der Silberschnalle war verschwunden. Jemand mußte ihn geraubt haben. Wie Rabengefieder flatterte die schwarze Kutte dem Mönch um den Leib. Schultern und Beine bekleidete sie wie zuvor, aber um den Oberkörper herum schien es, als sei sie in feine Streifen geschnitten worden. Wo sie Haut entblößen sollte, glänzte blutendes Fleisch. Auf Tietgauds Kopf klebte ein kläglicher, nasser Haarfetzen.
Alenas Arme wurden nach hinten gerissen, und mit knackenden Fasern im Strick schlossen sich die Knoten um ihre Handgelenke. Fäuste stießen sie in die Dunkelheit, und dann krachte hinter ihr die Tür zu. Sie stolperte, fing sich. Eine ganze Weile stand sie da, lauschte den leisen Atemzügen um sie herum.
»Brun, bist du am Leben?« Das war Embricho.
Aus einer anderen Ecke kam ein zischender Laut. Jemand zog Luft durch die Zähne.
Alenas Kiefer bebte. »Was ist geschehen?«
»Die Augen«, stöhnte Brun. »Er hat mir – die Augen –«
»Uvelan ist verraten.« Embrichos Stimme war hohl, es klang so, als schabte ein leeres Tongefäß über eine Tischplatte.
»Ich weiß.«
Audulf wisperte: »Alles ist verloren.«
32. Kapitel
Bis hinunter zum äußeren Mauerring war die Wiese gefüllt mit Zelten und Menschen. Es mochten achtmal oder neunmal Tausend sein, oder noch mehr. Rauchsäulen reckten sich schnurgerade zum Himmel, wo man kochte und buk. Entlang des Walls spielten fünfzig oder sechzig Kinder mit einem Ball aus geflochtenem Schilf. Ziegen blökten, Krähen wurden aufgescheucht, flatterten eine kleine Runde über den Zelten und ließen sich wieder nieder. Sie stakten zwischen Menschenfüßen und Tierbeinen auf der Suche nach Eßbarem umher. Es stank nach Kot und duftete zugleich verführerisch nach warmem Gerstenbrot.
Einige Hundert Männer, Frauen und Kinder bildeten in respektvollem Abstand einen Halbkreis um die Gefesselten und gafften.
Wußten sie, wer er war? Manchen stand Erstaunen ins Gesicht geschrieben, aber das mochte seinen Grund auch darin haben, daß sie einen Greis wie ihn nicht als würdiges Opfer ansahen und sich über den
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