Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
Sehen wir, welcher der Stärkere ist.«
»Ich glaube nicht, daß der Eure mehr ist als ein Täuschungsdämon im Auftrag des Bösen.«
Uvelan lachte auf. »Und ich glaube nicht, daß es den Euren überhaupt gibt. Ihr habt mich kurz ins Zweifeln gebracht, das gebe ich zu. Aber wißt Ihr, ein Gott, der seinen Sohn sterben läßt, das ist wohl kaum mehr als eine Geschichte, die sich jemand erdacht hat, um seine Freunde an einem frühen Winterabend zu unterhalten. Wie kann ein Gott überhaupt den Tod finden?«
»Wollt Ihr, daß ich es Euch erkläre?«
»Das habt Ihr ja schon einmal versucht. Die Menschen sollen ihn getötet haben, und weil er freiwillig sterben wollte, hat er sie gewähren lassen. Warum sollte ein Göttersohn das tun?«
»Wartet, ich will kurz nachdenken.« Der Mönch schwieg eine Zeit, kaute auf unsichtbaren Worten herum. Schließlich hellte sich sein Gesicht auf. »Habt Ihr Euch einmal einem Drosselnest genähert?«
»Ich habe Drosseln singen gehört …«
»Nein, ich meine das Nest! Ist Euch noch nie eine Drossel begegnet, die krank und lahm auf dem Boden dahinhüpfte, den Flügel hängen ließ, und der es trotz wiederholten Versuchen unmöglich war aufzuflattern?«
Was hatte das mit dem Christengott zu tun? Verglich er ihn mit einem schwachen Vogel? »Ja, das kenne ich. Die Drosseln fürchten um ihre Jungen. Sie suchen, mögliche Räuber abzulenken, indem sie sich schwach stellen.«
»Richtig. Das hat Jesus Christus getan. Nur, daß er tatsächlich den Tod fand, um uns zu retten.«
»Wen wollte er von uns ablenken? Und warum? Hätte er ihn nicht besiegen können?«
»Niemand besiegt das Gesetz.«
»Wer hat es gegeben, dieses …«
»Gott der Vater.«
Svarogh. Er war der Gesetzgeber. Der, nachdem sich die Völker richteten: Nur eine Frau zu haben, nicht zu stehlen, nicht zu morden. Und wenn Svarogh … Gott war? Dieser Jesus Christus – einer Drossel gleich sollte er das Urteil von den Menschen abgewendet haben. »Wenn Gott seinen Sohn für uns Menschen opferte, dann müssen wir ihm sehr viel bedeuten. Warum sollte das so sein?«
»Erinnert Euch an die Drossel. Warum setzt sie ihr Leben aufs Spiel? Sie versucht, ihre Jungen zu retten, ihre Kinder. Gott, der uns erdacht und geschaffen hat, ist so ein Vater für uns, der uns liebt und deshalb alles für unsere Rettung tut.«
Uvelan spürte die Sonne auf dem Gesicht wie eine warme Hand. Er hob die Stirn zum Licht. »Laß mich das Opfer sein, Svarogh«, sprach er laut. »Besiege du den Christengott, zeige Tietgaud, daß du der Stärkere bist, und laß es mich sein, der zum Volk sprechen darf!«
Es war keine fünf Wimpernschläge still, da hörte er den Mönch sagen: »Ich weiß, es ist dir ein leichtes, Vater, die Geschicke in diesem finsteren Tal zu lenken. Aber ich bitte dich, bringe mich nicht nur vor das Volk, sondern erobere auch das Herz des Priesters Uvelan. Du liebst ihn, das weiß ich.«
Uvelan verschluckte sich am eigenen Speichel.
Tageslicht fiel unter der Tür durch einen schmalen Spalt in den Raum. Auch im Dach gab es Ritzen, in denen die Sonne funkelte. Und trotzdem war dieses Haus ein Ort der Sterbenden, ein finsteres Loch. Alena kauerte an der Wand gegenüber der Tür. Sie roch den Schweiß, das Blut, den Harn der gefolterten Franken. Vielleicht war sie es auch selbst, die stank. Wen kümmerte es? Die hier saßen, hatten weniger Wert als Tiere.
Kindergeschrei drang gedämpft durch die Wände. Wie esKitan wohl erging? Ob er im Wald stand in der Nähe seines Tollensanendorfs und Rinde sammelte, um Pech zu kochen? Ob er bei seinem Vater war und ihm die heißen, gebogenen Planken für ein Boot reichte? Die Hose, die nicht lang genug gewesen war, um seine knochigen Beine zu bedecken. Das zerschlissene, graue Wollhemd, das ihm schief über den Gürtel gehangen hatte. Die schmalen Schultern. Die schwarzen Flecken auf den Wangen, die schmutzigen Ohren, und die helle Stimme, mit der er gesagt hatte: »Ich kann schon ganz alleine Feuer machen!« Sie hätte diese leuchtenden Augen küssen können, den kleinen Nasenrücken, der sich frech in die Welt streckte.
Nie würde sie eine weiche, winzige Hand fühlen, die sich um ihren Finger schloß, eine feuchte Kinderhand, die eben im Mund gesteckt hatte und sich nun an sie klammerte. Nie würde sie einen Sohn haben, dem der Mund offenstand vor Staunen über die Welt und dem sie sie zeigen durfte. Es würden für sie Erzählungen bleiben: Die feinen Tritte im Bauch, wenn ein Kind
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