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Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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löste er die Hand vom Stamm und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Die Finger abgespreizt und die Arme leicht erhoben, verlagerte er das Gewicht auf das rechte Bein und hob das linke, setzte den linken Fuß auf den Boden, hob den rechten. Plötzlich begann das linke Knie zu zittern, bebte, schlotterte. Er schloß die Augen.Krampfte die Hand in den Stoff des Hosenbeins. Der Boden schwankte bedrohlich.
    Endlich stand er wieder ruhig. Er stelzte weiter.
    An der Eiche angelangt, sah er von Ast zu Ast in die Krone hinauf. Ein dicker, unumstößlicher Baumriese, die Rinde mit Ackerfurchen vom Boden bis in die Höhe hinauf, die Zweige in sanfter Bewegung. Ein mächtiger Verbündeter, ein Freund. Ehrfurchtgebietend, weit über seine kleine Existenz hinausweisend. Schweigsam. Die Eiche streckte sich auf in die Wolken. Wieviel näher war sie dem Himmel als er, der kleine Mensch!
    Zögerlich hob er die Rechte zum Gesicht, betastete es. Schmutz rieselte aus tiefen Falten. Er folgte dem Nasenbein von den zusammengewachsenen Augenbrauen bis zur Spitze. Schief. Die Nase war schräg zur Seite gebogen.
    Diese Krallen! Eine Götterstrafe, ein Fluch.
    Es war ein Morast, durch den sein Geist watete. Löcher lauerten, warteten darauf, ihn hinabzuziehen in stumpfes Nichtwissen, Nichtdenken. Jedes Wort erregte ihn, war fremd und beglückend.
    Es fauchte in der Luft. Hart schlug etwas an seinen Kopf. Er stöhnte, hob die Hand zur schmerzenden Stelle. Blut. Er blickte hinauf in die Bäume.
    In weiter Entfernung kicherte jemand. Kaum hatte er sich dem Geräusch zugewendet, zeigten sich drei Köpfe über einem Strauch. Jungenhände holten weit aus, dann zischten Steine auf ihn zu. Sie trafen die Schulter, den Unterarm, das Bein und bissen ihn dort, als wären es Schlangen.
    Er wollte nicht wieder auf alle viere hinab, fürchtete, niemals mehr aufstehen zu können, wieder in den Sumpf, in das Dunkel hinabzusinken. Also blieb er aufrecht stehen und duldete den Schmerz. Alles war besser als das Vergessen, das Nichtdenken. Er preßte die Backenzähne aufeinander und gab ein leises Brummen von sich. Die Jungen bückten sich nach neuen Steinen.
    Er ging auf sie zu. Die Köpfe erschienen, Augen zogen sich zum Zielen zusammen. Hände holten aus. Wieder bissen ihn die Treffer ins Fleisch. Er fühlte Wärme über seine Haut rinnen, das ganze Bein hinunter. Dann war er am Strauch. Johlend sprangen die Jungen auf. »Der Besessene!« riefen sie. »Rettet euch!« Sie rannten durch den Wald davon.
    Er schaute ihnen hinterher, rührte vorsichtig mit der Hand an seine frischen Wunden und stöhnte.
    Bald konnte er die Jungen nicht mehr sehen, aber er ging in die Richtung, in der sie verschwunden waren.
    Er roch die Siedlung. Er roch nasses Stroh, und sein Kopf zeigte ihm Bilder von Strohdächern, obenauf trocken und hell, aber im Innern dunkel und feucht vom letzten Regen. Er roch feine, warme Asche. Vorsichtig wankte er von Baum zu Baum, bis er an den Rand des Waldes kam. Dort blieb er stehen und spähte aus. In einiger Entfernung lag das Dorf: Neun Dächer. Ein kleiner Bach verließ neben ihm den Wald und schlängelte sich auf die Siedlung zu, um sie an der Seite zu streifen und sich dann in das Waldgebiet zu wenden, das weit auf der anderen Seite lag.
    Im Halbkreis rings um das Dorf hatten die Einwohner Felder angelegt. Nahe beim Wald folgte ein Mann einem Ochsen, preßte die Pflugschar so hart in den Boden, daß er zu den Seiten Schollen aufwarf. Er hatte den benachbarten Acker wohl schon umgegraben, dort zogen eine Frau und zwei Halbwüchsige eine vielarmige Baumkrone hinter sich her und verteilten die aufgebrochene Erde. Auch auf den hinteren Feldern waren Menschen zu sehen, Ertrinkende in wogenden Seen grüner Ähren.
    Auf einer Brache ruhten weiße Wolkenbausche. Das Wort dafür schimmerte aus seinem Gedächtnis herauf: Schafe. Ein Junge, aus der Entfernung klein wie eine Puppe, stand, auf einen Stab gestützt, in ihrer Mitte.
    Ein langes Rauchseil fiel aus dem Himmel. Der weiße Rauch mündete in die Öffnung knapp unterhalb des Dachfirstes eines großen Hauses. Dort im Haus war es warm.Er fror. Einer Burg gleich, saß das Dorf inmitten der Wildnis, thronte zwischen Tieren und Feldern und arbeitenden Menschen.
    »Wie heiße ich?« murmelte er und trat aus dem Wald. Er folgte so lange dem Feldrand, bis er auf einen hartgetretenen Pfad stieß, der zum Dorf führte. »Wie heiße ich.«
    Die Menschen auf den Feldern hoben die Köpfe und

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