Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
auch, daß der Sohn Eures Gottes gestorben ist?«
»Natürlich.«
Das Regenwasser rann Alena über das Gesicht. Sie preßte die Hände vor den Bauch und rieb sie aneinander, als könnte sie damit den kalten, nassen Hauch entfernen, der die Haut umfing.
Der Hüne schritt voran, ohne sie zu beachten. Schließlich blieb er vor einem jungen Baum stehen. Zwei Finger dick war der Stamm, und die Spitze des Baumes überragte Embricho nur wenig. Er hob das Schwert schräg in die Höhe und ließ es auf den Stamm heruntersausen. Kurz über dem Boden schnitt die Klinge in die Rinde, verletzte das junge Holz. Ein Zittern lief durch den Baum, und noch während die Spitze wippte, traf das Schwert erneut.
Um nicht im Weg zu stehen, wechselte Alena auf die andere Seite. Sie betrachtete die Schultern des Hünen, sah die Oberarme, die sich unter dem nassen Hemd spannten. Der Baum hing nur noch an einem schmalen Span. Mit einem horizontalen Streich trennte Embricho ihn ab. Die eine Hand oben an der Spitze, strich er mit dem Schwert den Stamm entlang und entfernte die Zweige.
»Ihr wollt mit einem Speer jagen?«
»Großartig beobachtet.«
Mit kurzen, kräftigen Hieben, jedesmal den Stamm ein wenig gedreht, spitzte der Hüne das dicke Ende an.
»Was wollt Ihr jagen?«
»Was mir vor den Speer läuft. Und ich hoffe, Ihr schweigt still. Die Tiere haben gute Ohren.«
»Meint Ihr, ich weiß das nicht?«
»Wo ich herkomme, gehen Frauen nicht zur Jagd. Es mag anders sein bei Euch.«
»Wo ich herkomme, werden Frauen freundlich behandelt.«
Embricho verharrte kurz, starrte auf den Boden.
Wo schaute er hin? Das Laub glänzte, Wasser rauschte herab.
Er arbeitete weiter. »Ich habe Euch nicht gebeten, mit mir zu gehen. Es regnet, die Kleider kleben mir am Leib. Ich friere. Mein Magen knurrt. Kastellan Haldemar hat mir zwei Dutzend Männer anvertraut, und ich habe sie in den Tod geführt. Tietgaud erwartet von mir, daß ich genauso dem Tod ins Gesicht sehe, weil irgendein Ansgar es getan hat. Da soll ich freundlich sein?«
»Gestern wart Ihr es.«
»Schön. Ihr nicht.«
Das Sausen des Regens war Alena schlagartig unerträglich.
Wenig später schlichen sie durch den rauschenden Wald. Wasser von tiefhängenden Ästen ergoß sich über Alena, sie rutschte auf Wurzeln aus, deren Rinde der Regen in eine schwarze Schleimschicht verwandelt hatte. Wenn sie mit dem Wollkleid in den Dornen eines Gebüschs hängenblieb und die Zweige zurückklatschten, wendete sich Embricho nach ihr um und kniff tadelnd die Augen zusammen. Dabei machte er selbst Fehler. Totes Holz knackte unter seinen Füßen, an anderer Stelle hielt er den Speer zu hoch und stieß gegen einen niedrigen Ast.
Hinter einem Eschenstamm blieb er stehen, lehnte sich seitlich mit der Schulter dagegen. Er bewegte sich plötzlich sehr langsam, in einer angespannten, gewissenhaften Art. Seine Linke streckte Alena das Schwert entgegen.
Sie nahm es; nasses, schweres Eisen, mehr Gewicht, als sie erwartet hatte. Der lederumwickelte Knauf trug die Wärme von Embrichos Hand. Dieses Eisen hatte Mstislavs Fleisch in Fetzen gerissen.
Den Speer dicht am Körper, neigte der Hüne den Kopf nach vorn und sah am Stamm vorbei. Alena folgte seinem Blick. Rehe, das Fell dunkel, regennaß, standen mit in die Höhe gestreckten Hälsen in einiger Entfernung und ästen Blätter von den unteren Zweigen. Zwei Kitze stakten unbeholfen zwischen ihnen umher, die Beine wie dünne Stecken gegrätscht. Am Hinterteil der Rehe leuchtete ein heller, weißer Fleck.
Als Embricho den Kopf wieder zurücknahm und Alena sah, schnellte seine Hand vor. Er zog sie heran. »Der Wind steht gut,« flüsterte er, »aber wenn sie Euch sehen, sind sie weg.« Er löste den Griff. Kaum eine Handbreit, und ihre Wange würde sich an seine Brust schmiegen. Alena konnte auf ihrem Gesicht die Wärme fühlen, die die Haut ausstrahlte, durch das Hemd hindurch. Sie sah auf. »Was wollt Ihr tun? Sie sind zu weit entfernt für einen Wurf, richtig?«
»Wir müssen warten. Näher heranzulaufen macht keinen Sinn, sie würden uns bemerken. Hoffen wir, daß sie von selbst kommen.«
»Darf ich Euch etwas fragen?«
Embricho nickte. »Flüstert!«
»Warum buhlt Tietgaud plötzlich um mein Wohlwollen«, wisperte Alena, »und fragt mich nach meinen Göttern? Es ist sicher ein Trick, aber ich durchschaue ihn nicht.«
»Ich weiß es nicht.«
»Verlangt Euer Gott wirklich, daß Ihr Eure Feinde liebt?«
»Es ist schwer, aber er fordert es.«
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