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Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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ich dich. Was ist geschehen?«
    »Ich konnte nicht schlafen. Sie haben laut gesungen und getanzt.«
    »Ich werde den Männern der Tempelgarde eine Warnung geben. Wenn sie sich nicht zügeln, verfüge ich, daß ihre Frauen und Familien nach Kvetsk gebracht werden.«
    Sie liefen um den Tempel herum, bis sie an der Ostmauer der Burg angelangt waren. Eine Leiter lehnte am Wall.
    Ohne daß Nevopor etwas sagen mußte, eilte Donik voran und erklomm die Sprossen. Der Priester folgte ihm. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Vielleicht würde es doch ein annehmbarer Tag werden.
    Nevopor sah zu beiden Seiten den Wehrgang entlang: Der drei Schritt breite Sandweg war leer. Keine Wache befand sich auf der Ostmauer. So gehörte es sich für die Tageszeit; Nevopor duldete nicht, daß im ersten Licht ein unwürdiger Schatten auf die Tempelwand fiel.
    Er trat an die äußeren Palisaden heran, blickte über den Nebelschleier, der den Lucinsee unter sich verbarg, als hätte sich eine flache, riesige Wolke zum Schlafen darauf niedergelassen. Nur an den Rändern war die dunkle Wasserfläche zu sehen. Ein Reiher flog auf, segelte lautlos mit edel gekrümmtem Hals über den See hinweg und verschwand zwischen den Bäumen am nördlichen Ufer.
    Der Himmel über dem Wald hatte sich schon rötlich eingefärbt. Nevopor drehte sich um, blickte auf die Köpfe der Wächterstatuen, die den Tempel umgaben. Noch berührte sie kein Morgenschein.
    So gehörte es sich. Der erste Strahl der aufgehenden Sonne, der das Land betastete, mußte auf das Heiligtum fallen. Nevopor war dankbar, daß in Rethra keine Fürstenburg dem Tempel den ersten Sonnenstrahl streitig machen konnte. Seit Jahren kämpfte er erfolgreich dafür, daß die Heiligtümer überall im Land auf dem höchsten Platz der Siedlung errichtet wurden, auch über den Häusern der Fürsten, und mit freier Stirnwand gen Osten. Dinge wie diese waren es, die den Unterschied ausmachten. Dergleichen bezeigte Ehre. Ehre für Svarožić.
    Der erste Lichtschein brach über die Baumwipfel. Nevopor neigte den Kopf, schloß die Augen. »Willkommen, du größte Gabe Svarožićs«, raunte er. Er atmete ruhig und tief, schluckte einige Male. »Richte deinen Schein mit Wohlwollen auf Rethra.« Langsam hob Nevopor das Gesicht ins Licht, wendete sich um und sah zum Tempel. Die Sonnenstrahlen rührten an die Köpfe der Statuen, weckten die Farben ihrer drohend in die Länge gezogenen Gesichter. Das rote Morgenleuchten entfachte die Wut auf ihre Stirnen.
    Rethra.
    Nevopor lächelte. Rethra, dieses Rethra war sein Werk. Sieben Jahre war es nun her, daß auch die Tollensanen ihre Feldzeichen in den Tempel gebracht hatten, und er hatte es verstanden, diesen Umzug der Feldzeichen vielen Tausend Slawen aller Stämme vorzuführen. Es gab kaum noch einenStamm, der nicht seine heiligen Waffen in Rethra aufbewahren ließ. Es gab keinen Krieg, ohne daß vorher das Orakel von Rethra befragt wurde, und war der Krieg beendet, so reiste der Sieger hierher und teilte seine Beute mit dem Tempel.
    So viele Tempel und Götter gab es im Land, aber Rethra überragte sie alle. Er tat einen tiefen Atemzug. Der Tempel erlaubte keinen Blick auf die Vorburg, aber er kannte sie, die weite, mauerumwehrte Heide, auf der an gewöhnlichen Tagen die Pferde der Tempelgarde grasten. Sie gab Raum für zehntausend Menschen, und von jedem Punkt aus konnte man über den inneren Mauerring hinweg den Tempel sehen, weil der Wall sich nach Westen hin mit dem Gelände ein wenig absenkte. Ein größerer, stattlicherer Festplatz, als ihn selbst Arkona auf der Insel Rügen hatte, Arkona, das Fernhandel bis Arabien trieb. Wie nannten es die Araber? Akanija? Rethra hatte es überflügelt. »Donik? Heute ist Tag der Rechtsprechung, richtig?«
    »Ja, Herr.«
    »Wieder eine Woche vergangen. Warten bereits viele?«
    »Ein Kessinerfürst –«
    »Richtig, Želechel. Ich habe damit gerechnet, daß er den Tag des Gerichts nutzen würde, um an mich heranzutreten. Was gibt es noch?«
    »Ich denke, der Hof wird sich bald füllen. Das Übliche, Bitten um Schlichtung, um Rat und so weiter.«
    Da – war das nicht ein leises Kratzen gewesen, ein kaum hörbares Beben in Doniks Stimme? Nevopor drehte den Kopf. Täuschte er sich? Er suchte nach Zeichen in Doniks Gesicht. Das Morgenlicht färbte die blasse Haut mit einem Hauch von Kupfer, glänzte in den kurzen schwarzen Haaren, die wie das Gras einer Uferböschung in Doniks Stirn hingen. Unter den Augen lagen dunkle Schatten,

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