Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
Embrichos warme Hand senkte sich auf Alenas Schulter herab. »Nicht wahr, ich sollte mich auf meinen Tod vorbereiten.« Als Alena etwas sagen wollte, schüttelte er den Kopf. »Nein, Ihr habt keinen Grund dafür, Euch für uns einzusetzen. Wir sind Feinde, Alena. Ich weiß das. Tut, was Ihr Eurem Volk schuldig seid. Ich werde meinen Teil übernehmen, und es wird mit unserem Tod enden. Auch Tietgaud weiß es. Er muß es wissen.«
Einem plötzlichen Drängen folgend, legte Alena ihre Handflächen auf Embrichos Brust. Sie tat es sanft, rührteihn kaum an. Nur die Fingerspitzen und die Handballen berührten sein Hemd, und sie spürte, wie sich darunter in einem Erschrecken die Muskeln anspannten, um sich kurz darauf wieder zu lösen. »Ich möchte nicht Eure Feindin sein«, flüsterte sie.
Ein nasser Streifen sammelte sich in den blauen Augen des Hünen. Er schloß die Lider, tat einen tiefen Atemzug. »Glaubt Ihr mir, daß ich Angst vor dem Sterben habe?« Langsam rutschte er am Stamm herunter, ging in die Hocke. »Vielleicht hat Tietgaud recht, und es ist ein stolzer, ein ehrenvoller Tod. Aber ich habe nicht das Gefühl, daß es Zeit für mich ist zu sterben. Das Leben erscheint mir so kostbar! Ich bin einfach zu jung.«
Es war ein Junge, ein Kind, das sich fürchtete. Zum Hünen herangewachsen, sich seiner Kraft kaum bewußt. In Gedanken sprach Alena zu ihm: Weißt du, daß du ein stattlicher Mann bist? Daß du vor niemandem Angst haben mußt? Sie kniete sich hin. Dann bewegte sie die Hand auf sein Gesicht zu, auf den blonden Stoppelbart, die sorgenvoll geschlossenen Augen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Finger es erreicht hatten, es berührten. Sanft streichelte sie Embrichos Wange, umfühlte die Nase, glättete die Augenbrauen. Sie streifte auch den Mund, fuhr mit dem Daumen über die Lippen. Sie konnte nicht mehr anders: Alena neigte sich vor, öffnete leicht ihren Mund und benetzte seinen. Sie spürte Embrichos Hände, die sich um ihren Nacken legten, sie näher heranzogen.
Auf der anderen Seite der Esche, kaum noch zwei Schritt entfernt, hob ein Reh den Kopf.
9. Kapitel
»Ich bin sehr ungehalten, Donik. Jeden Augenblick geht die Sonne auf.« Nevopor streckte die Arme nach hinten, bereit, angezogen zu werden. »Der Mantel, eile dich.«
Gehorsam schob Donik den Mantel über Nevopors Arme und glättete das schwarze Leinen auf den Schultern.
Nevopor sah an seiner Brust hinunter. Mit nach rechts verzogenem Mund zupfte er einige Fusseln von den Seidenstickereien. Die weißen Fäden schillerten im Glühen des Talglichtes. Er streckte die Rechte aus, ohne hinzusehen, die Handfläche nach oben geöffnet. »Die Priesterbinde.« Sorgfältig darauf bedacht, den feinen Stoff nicht zu knicken, legte er sich die Binde um die Stirn. Am Hinterkopf band er mit spitzen Fingern einen Knoten. Er fuhr die Enden der Binde entlang, die sich in seinen langen Haaren verloren. »Gleich lang?«
»Ja, Herr.«
»Und was möchte ich als nächstes haben? Muß man dir heute alles sagen?«
»Das Messer, Herr.« Kein Ärger lag in der Stimme des jungen Mannes. Er sprach im gleichen, ruhigen Tonfall, als wäre er nach dem Wetter gefragt worden.
Das gefiel Nevopor. Er nahm das Messer entgegen, glitt kurz mit den Fingern über die spiralförmigen Rollen, in die sich der Bronzegriff zweiteilte, und steckte es in die Scheide am Gürtel. Donik blieb immer gelassen, egal, was geschah – eine hoch zu schätzende Eigenschaft.
Es reizte Nevopor nicht, die Grenzen dieser Ruhe auszuloten. Ihm war nicht an einem Ausbruch von Streit und Ärger gelegen. Er war zufrieden, wenn sie noch vor Sonnenaufgangdie Rückseite des Tempels erreichten. Der Tag hatte durch das hastige Anziehen genug Störung erfahren.
»Gehen wir. Unterwegs wirst du mir erklären, warum ich nicht zur rechten Zeit geweckt wurde.«
Sie verließen das Priesterhaus und gingen den ansteigenden Platz hinauf in Richtung des Tempels. Vom See wehte kühle Luft herüber. Wie ein Felsen hob sich der Tempel gegen den Himmel ab, schwarze Kanten im Grau des frühen Morgens.
»Hast du das Licht gelöscht?«
»Ja, Herr.«
»Was ist deine Entschuldigung für die Verspätung heute morgen?«
»Ich habe verschlafen. Unten in der Vorburg haben sie gefeiert gestern nacht.« Doniks Stimme zeigte keinerlei Regung. Er artikulierte genau, aber ohne ein Wort besonders zu betonen oder die Stimme zu heben.
»Und du hast mit ihnen getrunken?«
»Nein. Ich trinke keinen Wein.«
»So kenne
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