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Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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verziehen. Dann beugte er sich nach vorn, bis er sein Gesicht in der Wasserfläche sehen konnte. Er sah die Wolken über seinem Kopf, sah den Himmel wehen wie ein blaues Tuch. Für einen Moment schloß er die Augen. Als er sie wieder öffnete, waren für ihn der Himmel und die Wolken, war für ihn sein eigenes Gesicht unwichtig geworden. Die Kupferschüssel nahm riesenhafte Formen an, die kleinen Wellen wurden zu Wogen, das Erzittern der Wasserfläche zu einem fürchterlichen Beben.
    Ein Windzug trieb das Wasser zur rechten Seite. Dunkel und golden schimmerte der Boden des Beckens. Nevopor sah dort unten im Schattenspiel Burgwälle erstehen, sah kleine Bewegungen wie Menschen, die arbeiteten. Dann wieder ein Windhauch, und Rauchdünste zogen über die Wälle hinweg, die Menschen eilten, rannten, flohen. Ein Sturm ließ die Wälle erzittern, ließ sie zusammenstürzen.
    Nevopor schloß wieder die Augen. Schließlich sah er zum Kessiner auf. »Das Dorf ist in deiner Hand.« Želechel machte Anstalten, etwas zu sagen, aber Nevopor hob die Hand. »Warte. Das Orakel hat erst Gültigkeit, wenn es durch ein zweites bestätigt wurde.« Ohne den Kopf nach dem Linonen umzuwenden, rief er dessen Namen.
    Donik erschien, setzte einen bestickten Lederbeutel neben dem Kupferbecken ab, stemmte die Schüssel hoch und trug sie fort.
    Nevopor ließ sich Zeit. Er griff nach dem Beutel und löste mit würdevoller Langsamkeit die Schnur, die ihn verschloß. Die Blicke des Kessiners waren ihm nicht unangenehm. Es war gut, wenn er warten mußte. Ein hastig gesprochenes Orakel war nicht mehr als eine Bestätigung der Wünsche des Fragenden. Aber ein Orakelwort in Ruhe konnte Kraft entfalten.
    Er hob den Lederbeutel in die Höhe, drückte die Zunge gegen den Gaumen, um den Zugang der Nase zur Kehle abzudichten. Sollte er ihn warnen? »Schließe deine Augen,Želechel.« Auch er schloß seine Augen und kehrte den Aschebeutel um. Nevopor wartete. Er fühlte, wie sich der feine Staub auf seine Hände niedersenkte, roch den stumpfen, trockenen Aschedunst. Als er die Augen wieder öffnete, schwebte nur noch ein dünner Hauch über dem Ascheberg.
    Er führte die Hand über die Asche, ohne sie zu berühren, ertastete ihre Erhebungen und Senken, indem er sie überflog. Einige schwarzgekohlte Holzteilchen gab es, aber sie lagen und standen nicht. Besiegt, vernichtet. Das Dorf oder der Kessiner? Nevopor suchte nach einem Anzeichen von Burgwällen. Jeder kleine Hügel war von Senken oder anderen Hügeln durchbrochen; es gab keine Welle, die unbeschädigt lag. Das Dorf.
    Nevopor stand auf. Der Schmerz stach ihm in den Gelenken.
    Im Gesicht des Kessiners, der sich gleichfalls erhob, lag Unruhe. Nevopor sah die Falten zucken, die Augen unstet umherwandern.
    Nun würde er anders kämpfen. Er würde den Sieg nicht durch Zurückhaltung gefährden, und er würde seinen Kriegern sagen können, daß Rethra ihnen Erfolg prophezeit.
    »Die Antwort, die du suchst, ist diese, Želechel: Das Obodritendorf wird besiegt werden.«
    »Ich danke dir. Ich erhoffte einen solchen Orakelspruch.« Der Kessiner lächelte breit.
    »Es scheint, Svarožić ist dir wohlgesonnen.«
    »Weil ich mich seinem Wunsch nach Ruhe nicht widersetzt habe?«
    »Vielleicht. Es war in jedem Fall eine kluge Entscheidung.«
    Dieses Mal war Želechels Lächeln von feinerer Art. »Du hast eine vortreffliche Tochter.«
    Damit war alles gesagt. Nevopor nickte. Es war nun seine Aufgabe, sie dem Fürsten anzubieten, wenn sie heimgekehrt war. »Lebe wohl, Kessiner.«
    »Lebe wohl, Hochpriester.«
    Nevopor wartete, bis Želechel mit seinem Gefolge das Westtor der Hauptburg passiert hatte. Sie stiegen die Treppe herab, zuerst verschwanden ihre Beine, dann der Oberkörper und schließlich die Köpfe. Als sie fort waren, fuhr er einmal mit dem Schuh über die Asche. Es war unerträglich, ein offenes Bild zurückzulassen.
    Erst im Umdrehen bemerkte er Doniks Fehlen. Er hatte nicht ausdrücklich befohlen, daß der Linone hinter ihm warten sollte. Aber es wäre das Verhalten gewesen, daß er von ihm erwartet hätte. Welchen Grund konnte er gehabt haben, sich vorzeitig zu entfernen? Eine Nebensächlichkeit, nichts von Bedeutung. Nevopor strich sich den Priestermantel glatt. Und warum machte es ihn unruhig? Er entschloß sich, den Linonen zu suchen.
    Wenn er ihn gefunden hatte, würde er ihn nicht mehr aus den Augen lassen für die nächsten Tage. Auch wenn es geschäftige Tage werden würden: Bald mußten Mstislav

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