Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
das Wasser kalt? wollte Alena fragen. Nein, die Blöße würde sie sich nicht geben, sie würde ohne einen Laut hineingehen. An den Männern vorbei lief sie als erste zum Wasser. Sie hoffte, daß Embricho ihre Tapferkeit bemerkte. Das kalte Naß biß sie in die Waden, kletterte über die Knie und immer höher hinauf, zog am Gewand. Alena fühlte Steine und weichen Schlamm unter den Füßen, dann einen Ast, der unter ihrem Gewicht zerknackte. Mit der Rechten reckte sie das Messer und mit der Linken die Schuhe weit in die Höhe. In der Mitte des Flusses hielt das Wasser kurz unterhalb der empfindlichsten Körperteile an – Alena lief schon auf den Zehenspitzen –, dann zog es sich zurück. Sie machte große Schritte, zerrte das Kleid durch die schwere Wassermasse. Zwischen den mannshohen Schilfstengeln kletterte sie ans Ufer.
Hinter sich hörte Alena die Stimme des Alten mit großer Ruhe sagen: »Bleibt, wo Ihr seid, Frau. Ihr anderen vergeßt, daß sie da ist.«
Was wollte er? Sie drehte sich um. Dort standen sie, inmitten des Flusses: Embricho, Brun, Tietgaud, Audulf und der Alte. Niemand sah Alena an. Sie schauten alle flußaufwärts, hielten ihre Bündel und Waffen über die Köpfe, reglos. Wie tote Felsen trotzten sie dem Strom.
Eine Stimme erscholl: »Legt eure Schwerter ins Boot. Wenn ihr eine falsche Bewegung macht, habt ihr einen Pfeil im Hals.«
»Er sagt«, übersetzte der Alte, »daß wir die Waffen ins Boot legen sollen.«
Langsam ließ sich Alena hinuntersinken. Sie streckte die Beine aus, beugte auch die Ellenbogen, bis sie in voller Länge auf dem Boden lag. Das schwarze Wasser sog sich kalt in ihre Kleider, und sie steckte mit dem Kinn im Morast, währendihr das faulige Naß bis an die Unterlippe schwappte. Die Haare hingen rechts und links in der dunklen Brühe. So stark war der Modergeruch wenige Fingerbreit über dem Wasser, daß ihr der Atem stockte.
Sie sah Boote herangleiten, in denen Männer saßen mit Bögen, Pfeile aufgelegt und die Sehnen gespannt. Andere hielten Äxte an langen Schäften.
»Ist es nicht gestattet, durch das Obodritenland zu reisen?« Uvelans Stimme zitterte, ob vor Kälte oder vor Furcht, konnte Alena nicht sagen.
»Sicher, alter Mann. Aber deine Gefährten tragen Kettenhemden und Schwerter, und jenem dort baumelt das fränkische Zauberzeichen auf der Brust. Es sind doch nicht Franken?«
Tietgaud schrie in fränkischer Sprache: »Kaiser Ludwig wird Euch zu bestrafen wissen!«
»Sie verstehen dich nicht, Mönch«, sagte Uvelan.
Die Boote hatten die Gruppe erreicht. Alena hörte die erbeuteten Klingen in den hohlen Bootsrümpfen aufschlagen.
»Gut so. Zieht sie heraus. Ihr nehmt den Schreihals, wir nehmen den Alten und den Dünnen, und ihr packt den Kräftigen. Javor wird zufrieden sein mit uns. Die Schwerter sind ein Vermögen wert.«
Warum tat der Alte nichts? Warum versenkte er nicht die Boote der Obodriten, warum ließ er keinen Sturm auf sie herabfahren? War dieser Alte wirklich ein Mensch, machtlos und schwach wie alle anderen?
Aber vielleicht waren Vily in der Nähe, und er konnte im Gebiet der Wasserfrauen nicht handeln, ohne sie zu erzürnen. Alena erschauderte. War dort nicht der durchsichtige Körper einer Vila zu sehen, ihr weißes Kleid im Windhauch, die langen, rötlich blonden Haare?
Einer der Fremden sah um sich. Gerade noch rechtzeitig, bevor sich der Blick in ihre Richtung wandte, tauchte Alena das Gesicht in den Morast.
11. Kapitel
Wer immer Rethra das erste Mal sah, ob Gesandte von Königen und Stammesfürsten oder einfache Männer und Frauen – sie blieben auf dem Weg dorthin wieder und wieder stehen, um mit ihren Augen die Größe der Tempelburg zu messen. Umgrenzten sonst Burgen mit ihren Mauern einen kleinen Bereich, je nach der Besatzung, die zur Verteidigung aufgestellt werden konnte, so umarmte Rethra einen Hang von einer Weite, daß es kaum ohne ein Schwenken des Kopfes zu fassen war. Mehr als zweihundert Schritt holten die äußeren Mauern aus, griffen tief in das Land hinein, als wollten sie es dem Tempel erobern, es den heiligen Wäldern streitig machen, die die Burg umgaben.
Und Burgen hatten
ein
Tor, im Höchstfall zwei, um Angreifern wenig Schwachpunkte zu bieten. Rethra verfügte über
sechs
: drei im äußeren Mauerring, Tore ohne Türme, und drei im inneren Mauerring, von denen jedes mit einem mehrstöckigen Turm gesichert war.
Den ersten Mauerring umgab ein Graben, drei Mannslängen breit. Er grenzte an einen
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