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Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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mit quaderförmigen Granitblöcken verkleideten Wall. Einer steinernen Woge glich er, einem gepanzerten Buckel. Auf jenem Wall begann das Schanzwerk aus Erde und Holz. Dicke Stämme waren es, die sich aneinanderfügten und hölzerne Verstrebungen, Erde und Steine wie in einem Bauch verbargen. So breit ruhte der Wehrgang über dem Palisadenwerk, daß darauf ein Ochsenkarren rings um die Burg fahren konnte. Nur einen schmalen Bruch gab es im Wall, dort, wo der Teich ihn berührte. Hier floß bei starken Regenfällen das Wasser aus der Vorburg ab.
    Der innere Mauerring bestand aus einer steilen Böschung von sechs Schritt Höhe, ebenfalls mit zahllosen Steinen verkleidet. Aus der Böschung ragten Baumstämme empor, boten den Menschen hoch oben Schutz – je fünf waren einen ganzen Schritt höher, dann folgten fünf niedrigere, und wieder fünf höhere, so daß es gute Verstecke vor den feindlichen Geschossen gab, gleichzeitig aber Winkel, aus denen heraus die Besatzung Rethras Speere schleudern und Pfeile schießen konnte.
    Wie ein zu weit geratener Gürtel hing die Mauer am Hügel und gab die Sicht frei auf den Tempel; trat der Hochpriester aus dessen Tür, so tat er es genauso unübersehbar, wie die Sonne am Morgen ihren Weg über den Himmel begann. Er war auf den Hörnern von Tieren erbaut; bleiche Knochen waren es, die ringsum aus dem Fundament ragten: die Hörner von Ziegenböcken, Wisenten, dem Ur, auch die gebogenen des Widders. Dazwischen Geweihschaufeln von Elchen. Nichts anderes wäre ein angemessenes Fundament für das Haus Svarožićs gewesen, des Gottes des Feuers und des Krieges, als diese Zeugnisse von Kraft und Gewalt.
    Den Tempel umgaben lange Bohlen, wie dünne, übermenschengroße Geister, jede mit einem Kopf und schrecklichem Gesicht. Die schmalen Köpfe ragten über den Rand des Tempeldaches hinaus. Mit grellen Farben waren sie angemalt, Farben, die weder Schnee noch Regen lösen konnte. Die Körper der Geister waren in männlichen und weiblichen Formen ausgearbeitet, aber sie trugen keine Arme – das waren Glieder, die ein fliegendes Wesen nicht benötigte. Nicht selten schraken Besucher zusammen, die den Göttern opfern wollten und plötzlich zu bemerken meinten, daß eine dieser Statuen atmete. Die Geister verfolgten jede Bewegung mit den Augen, standen den ganzen Tag mit aufgerissenen Mäulern da, immer bereit, eine schuldige Seele zu verschlingen. Noch furchteinflößender als tagsüber waren sie des Nachts anzuschauen – lebendig gewordene, lauernde Dämonen, im Licht an die Tempelwand gekettet, aberin der Dunkelheit frei für die Hatz auf schwache Menschen.
    Wie es im Inneren des Tempels aussah, wußte außer den Priestern niemand. Unermeßliche Schätze waren im Tempel angehäuft, so erzählte man sich, und die heiligen Waffen aller Stämme ruhten neben den Göttern selbst.
    »Ein slawisches Delphi, die athenische Akropolis in den Wäldern der Wilden«, hatte einmal ein Fernhändler gemurmelt, und einer der fünf Männer, die Genaues wissen konnten, jener von ihnen nämlich, der die Macht hatte, Rethra zu führen, hatte leise genickt.
     
    Jarichs Priesterbinde saß schief, stellte Nevopor mit Verachtung fest. Der Priester hatte das Gesicht eines Ackergauls. Hätte Nevopor Zähne wie er, er würde nicht so oft lachen.
    »Nevopor, was schaust du so grimmig?« Jarich löste sich aus einer Gruppe von Menschen und kam näher.
    »Ich schaue wie immer.«
    »Das wäre ernstes Schauen. Du schaust aber grimmig.« Er gab Nevopor einen leichten Stoß vor die Brust und lachte. »Hör zu, vielleicht kann dich das aufheitern: Ich hatte vorhin einen Mann hier, dem haben Schweine das Feld verwüstet. Er wollte, daß ich sie verfluche. ›Wem gehören die Tiere?‹ habe ich ihn gefragt. ›Dem Zupan‹, sagte er. ›Bitte, Priester, geh auf den Wall, in dieser Richtung liegt unser Dorf. Wenn du einen Fluch sprichst, werden die Biester verrecken.‹ Ich sage dir, Nevopor, dieser Mann hat Wut mit sich herumgetragen! Und weißt du, was ich getan habe? Ich habe ihm geraten, sich beim Zupan zu entschuldigen. Was er für ein Gesicht gemacht hat! Ich sagte: ›Geh nach Hause, entschuldige dich beim Zupan dafür, daß dein Feld keinen Zaun hatte. Er wird dir Gutes tun.‹ Du hättest den Mann sehen sollen. Ihm sind die Augen hervorgequollen, als hätte er einen Sack Steine verschluckt.«
    Nevopor ballte eine Faust und drückte sich die Fingernägel in die Handfläche. »Jarich, wir haben viel Volk in derBurg

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