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Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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ein Mensch, und dafür werden viele andere gerettet.«
    »Die vielen mögen so denken. Aber der eine, der sterben soll? Leben wiegt man nicht gegeneinander auf wie Wolle und Eisenerz.«
    »Wenn du ein ganzes Volk retten könntest, indem du stirbst, würdest du dein Leben nicht freiwillig hergeben?«
    »Ich denke nicht. Vielleicht, wenn ich Menschen helfen könnte, die ich liebe. Aber es ist ein Unterschied, ob jemand getötet wird und es angeblich verdient, oder ob er sein Leben freiwillig einsetzt. Gott allein weiß, wer den Tod verdient. Kein Mensch sollte sich anmaßen, das zu bestimmen.«
    Den ganzen Weg zurück schwieg Alena, die blutenden Schildkrötenkörper in den Armen. Ruderbeine toter Tiere drückten gegen ihren Bauch, und sie vermochte nicht, einen klaren Gedanken zu fassen, kämpfte mit Tränen, mit Brechreiz, mit sich selbst.
    Am Rastplatz war ein kleines Feuer entzündet worden. Der Hüne trennte die Schildkrötenpanzer einen nach dem anderen auf, indem er die Messerklinge in eine Beinöffnung steckte und dann entlang der unteren Panzerkante schnitt. Es knackte, wenn er die beiden Hälften voneinander löste. Das Fleisch – tiefes Rot, helles Rot und Weiß – schabte Embricho aus dem Inneren der Panzer heraus und hieß die anderen, es auf Stöcke aufzuspießen und über dem Feuer zu rösten. Auch der Alte aß.
    Alena weigerte sich. Sie begnügte sich mit den Blättern und bittersauren Wurzeln, die Uvelan und Audulf gefunden hatten, bis ihr Embricho ein von ihm geröstetes Stück Fleisch am Stock hinhielt. »Ist schon abgekühlt«, sagte er, und es klang so zärtlich, daß sie annehmen mußte. Mit geschlossenen Augen aß sie. Das braungeröstete Fleisch schmeckte nicht nach Fisch oder nach Vogel, sondern hatte die federnde, ausdauernde Festigkeit von Rehbraten. Es fehlte Salz.
    »Erst die Pferde verloren«, sagte Brun, »und jetzt die Waffen. Wenn wir so weitermachen, erreichen wir Rethra nackt.«
    Uvelan lachte nicht. Er lächelte nicht einmal. Still saß er da, stierte ins Feuer und kaute.
    »Wir müssen uns gut überlegen, was wir den Redariern sagen. Wenn sie uns auch so lange ausreden lassen, wie der Fürst vergangene Nacht Tietgaud reden lassen hat, dann ist jedes Wort Gold wert.«
    Erneutes Gelächter.
    Warum lachte Uvelan nicht? Alena sah auf sein Gesicht.
    Die Oberlippe war nicht mehr als eine feine Kante unter den Barthaaren. Sie ruhte auf der starken Wölbung der unteren Lippe. Beinahe sah es aus, als schmolle Uvelan. Nein, nein, es war ein anderer Ausdruck, es war Nachdenken; er hatte die Lippe in tiefem Nachdenken vorgeschoben: Da war ein feiner, hellroter Streifen, wo sich die Lippen berührten.
    Ein Bart aus grauen und weißen Kräuselhaaren umgab den Mund, hing bis zum Brustkorb herab, wild wuchernd, ungekämmt. Pflanzenteile hingen darin, aber es erschien ihr inzwischen beinahe so, als würde etwas Entscheidendes fehlen, reinigte er den Bart davon. Darüber breite Wangenknochen. Überhaupt war es ein breites Gesicht. Alles bespannt mit einer dunklen, runzligen Haut. Die Falten setzten an den Augenwinkeln an und breiteten sich strahlenförmig aus, bis zu den Ohren. Überall diese Furchen, als wäre ihm ein Luchs ins Gesicht gesprungen und hätte es zerkratzt.
    Die Nase hing herab wie eine Wurzel, die das Wasser freigespült hat. Dort, wo sie ihren Anfang nahm, trafen sich die Augenbrauen. Dicke Hecken, die zusammenwuchsen. Alles das umgeben von einem grauweißen Haargewirr, in dem Kletten hingen, Holzstückchen. Die wilden Haare machten das Gesicht groß, ließen es noch breiter erscheinen.
    Worüber dachte der Alte nach? Sie hatte nie einen Menschen gesehen wie ihn.
    In diesem Moment hob Uvelan den Blick und sah ihr gerade ins Gesicht. Feuerlicht spiegelte sich in seinen grauen Augen. Er lächelte – nicht sehr, aber ein bißchen. Es erinnerte sie an ihren Vater.
    »Warum lacht Ihr nicht mit den anderen?« fragte sie.
    »Sie lachen, weil sie wissen, daß sie sterben werden. Ich lache nicht, weil ich noch nicht sterben kann.«
    Sofort war es still am Feuer.
    »Was soll das heißen?« knurrte Tietgaud. »Erkennt Ihr nicht, daß Gott uns gerettet hat? Wir hätten bei den Obodriten sterben können, aber der himmlische Vater wollte, daß wir leben. Wir werden die Dunkelheit Rethras zerstören und bringen sein Volk ins Licht. Wir werden predigen! Alena ist die Tochter des Hochpriesters, sie sorgt dafür, daß wir als Gäste empfangen werden. Und wir bringen das köstliche Lebenswasser der

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