Die Principessa
Gelage, bei denen tagelang gegessen und getrunken wurde, eine Rückkehr ins Goldene Zeitalter, wo unter der Regierung des Saturn nur Friede und Freude geherrscht haben sollen. Doch in ihrem Taumel vergaßen die Menschen eins: Falls es dieses Zeitalter unter seiner Herrschaft je gegeben hat, dann mit einer dunklenNachtseite, die viel schwerer als die strahlende Sonnenseite wiegt. Sie kennen den griechischen Namen Saturns?«
»Chronos, nicht wahr?«
»Ja, Chronos«, sagte er, und sein Gesicht füllte sich wieder mit dieser ernsten Trauer. »Der Gott der Zeit. Ihm verdanken wir jede Minute und jede Stunde unseres Daseins. Doch wenn er uns die Zeit schenkt, dann nur, um sie uns wieder zu nehmen, zu seinem Vergnügen und zu unserer Verzweiflung. Wissen Sie, was Chronos tat, als ihm geweissagt wurde, dass eines seiner Kinder ihm die Herrschaft rauben würde? Er verschlang sie alle, jedes gleich nach der Geburt. Und so«, fügte er leise hinzu, »verschlingt er uns gleichfalls. Wir wähnen uns mitten im Leben, wir arbeiten und freuen uns unseres Daseins, als gäbe es kein Ende, als wären wir unsterblich – dabei befinden wir uns schon in seinem Schlund.«
Plötzlich verstummte er. »Verzeihen Sie«, sagte er, »es war dumm und taktlos, von diesen Dingen zu sprechen.«
Clarissa schüttelte den Kopf. »Es ist das Leben, von dem Sie sprechen, und es fragt uns nicht danach, ob es uns gefällt. Außerdem – es tut mir gut, mit Ihnen zu reden. Aber sagen Sie«, fuhr sie fort, als sie seine Verlegenheit bemerkte, »soll ich Ihnen den Saturn zeigen?«
»Ja, das wäre schön.«
Sie trat an das Teleskop. Bald hatte sie den Stern am Himmelszelt gefunden. Sie richtete das Fernrohr nach ihm aus und forderte Borromini auf, hindurchzuschauen.
»Sie können ihn von den anderen Sternen leicht unterscheiden«, sagte sie. »Er ist als Einziger von einem Ring umgeben. Sehen Sie ihn?«
»Ja, ja, da ist er!«, rief er ganz aufgeregt. »Eine mattgelbe Scheibe, ich sehe den Ring genau. Wie eine Tasse mit zwei Henkeln. Heilige Muttergottes …«
»Der Saturn ist nach dem Jupiter der größte Planet am Himmel. Er hat sogar einen eigenen Mond. Leider kann man ihn mit meinem Fernrohr nicht erkennen.«
Aufmerksam hörte er zu, während er durch das Teleskop schaute, um allem, was sie sagte, mit seinen Augen nachzuspüren. Sie erklärte ihm die Stellung des Saturns im Kosmos, beschrieb seine Bedeutung und Größe im Verhältnis zu den anderen Sternen, ordnete ihn verschiedenen Sternbildern zu, und während sie ihm den Himmel der Planeten zeigte, wie er ihr einst den Himmel des Glaubens gezeigt hatte, stellte sie zu ihrer Verwunderung fest, dass sie beim Reden nach und nach für sich selber jene Ordnung am Firmament wieder fand, die sie fast verloren geglaubt hatte.
»Da steht er und blickt auf seine Kinder herab«, flüsterte Borromini voller Andacht. »Wissen Sie, wie weit er von uns entfernt ist?«
»Man kann es nur ungefähr schätzen, aber nach den Berechnungen der Astronomen müssen es zwischen siebenhundertfünfzig und tausend Millionen Meilen sein.«
»So fern – und doch gleichzeitig so nah«, staunte er. »Ist es da ein Wunder, wenn er solches Leid in den Seelen bewirkt?«
»Sie meinen – die Melancholie?«, fragte sie zurück, plötzlich begreifend. »Ist das die Krankheit, an der seine Kinder leiden?«
»Ja, die Melancholie«, sagte er. »Die Trauer der Seele über die Vergänglichkeit des Leibes …« Plötzlich stand er auf und wandte sich ab, als könne er den Anblick nicht länger ertragen.
»Ich weiß nicht, ob man solche Instrumente wirklich benutzen darf. Es ist, als würde man in Gottes geheimste Geheimnisse eindringen, doch ohne seine Erlaubnis.«
»Vielleicht haben Sie Recht«, sagte Clarissa. »Aber – tun Sie das nicht auch? Sie selbst haben mir einmal gesagt – ich weiß es noch genau, es war in Michelangelos Kuppel –, dass die Architektur Gottes Schöpfung nachbildet, dass man im Alphabet der Baukunst die himmlische Ordnung aufspüren kann.«
»Daran erinnern Sie sich? Nach so langer Zeit?« Er lächelte sie an, mit einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz im Gesicht, und seine Augen leuchteten wie zwei Sterne. »Worum sollte es sonst in der Kunst gehen? Nicht als Anmaßung und Selbstüberhebung,sondern als Seelentrost, den Gott uns erlaubt. Er hat uns Menschen zur Kunst befähigt, damit wir in ihr unsere Vergänglichkeit überwinden. Das ist die große Tröstung, die die Kunst uns spendet, und darum
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