Die Principessa
klar blickten die Sterne auf sie herab, die seit tausend und abertausend Jahren dort oben standen, ein jeder an seinem Platz, scheinbar fest und unverrückbar für alle Zeit. Sie sah den Großen und den Kleinen Bären, Kassiopeia und Andromeda, den Drachen und den Fuhrmann mit der strahlenden Capella … Sie alle waren ihr vertraut, von zahllosen Abenden und Nächten, die sie mit ihrer Betrachtung verbracht hatte. Und gleichzeitig waren sie ihr so fremd, als sähe sie sie zum ersten Mal.
Sie stellte das Okular ihres Fernrohrs nach. Gehörten die Sternbilder wirklich so zusammen, wie es von der Erde aus den Anschein hatte? Oder war es nicht Willkür, gottlose Anmaßung, sie aus solch unendlicher Ferne einander zuzuordnen? Gab es überhaupt eine ewige Ordnung am Himmel? Galilei behauptete ja, dass nichts so sei, wie es zu sein schien: Nicht die Erde stehe, wie die Sinne es vorgaukelten, im Mittelpunkt des Kosmos, sondern die Sonne, und die Erde drehe sich um die Sonne und um sich selbst. Aber wenn es nicht einmal am gestirnten Himmel eine gültige Ordnung gab, wie konnte es dann Ordnung unter den Menschen und in ihren Seelen geben?
War ihr Mann wirklich tot? Oder hatte McKinney gar nicht existiert? Manchmal war ihr, als hätte sie ihn nur im Traum gekannt, so fern und unwirklich schienen ihr die Jahre mit ihm auf Moonrock;dann wieder hatte sie das Gefühl, das Leben ohne ihn sei ein großes trügerisches Schauspiel, illusionistisches Blendwerk, ersonnen von einem boshaften Magier, der sich an ihrer Verwirrung weidete. Sie war nie in Leidenschaft zu McKinney entflammt, nie hatte ihr Herz zu klopfen begonnen, wenn sie ihn nach einer Trennung wieder sah, und er hatte ihr in all den Jahren ihrer Ehe keine einzige Stunde ihres Schlafes geraubt. Doch an seiner Seite hatte sie sich stets auf sicherer Bahn gewusst, jedem neuen Tag voller Vertrauen und Zuversicht entgegengesehen. Er war der Polarstern in ihrem Leben gewesen, nicht der größte und auch nicht der strahlendste Stern am Firmament, doch der ruhende, gleich bleibende Pol, an dem sie sich ausrichten konnte. Nun, nachdem er für immer erloschen war, trieb sie ohne Orientierung auf hoher See, unfähig, die Sternbilder noch zu erkennen, die sich als diffuse Lichternebel in der Unendlichkeit des Kosmos verloren.
Seit der Nachricht von McKinneys Tod hatte sie nur noch einen Wunsch: Sie wollte zurück nach England, fort von diesem Ort, wo sie das süße Gift des Schönen genossen hatte, um so schwer daran zu erkranken. Doch dieser Wunsch war ihr verwehrt. Denn der traurigen Botschaft ihres Vaters war ein Abschiedsbrief ihres Mannes beigefügt gewesen, in dem McKinney sie über den wahren Grund ihres Aufenthaltes in Rom aufklärte.
Was sie geahnt und gefürchtet hatte, stellte sich in dem Schreiben als wahr und wirklich heraus: Er war gar nicht krank gewesen, hatte sein Leiden nur vorgetäuscht als Vorwand, um sie außer Landes zu schicken. Doch nicht, weil er eine andere Frau liebte, wie sie vermutet hatte, sondern aus Liebe zu ihr, um sie vor den Bürgerkriegswirren in England zu schützen, denen er am Ende selbst zum Opfer gefallen war. Als schottischer Presbyterianer hatte er sich nicht nur gegen die Einführung des »Book of Common Prayer« zur Wehr gesetzt – jenes vermaledeite Gebetbuch, das der englische König allen seinen Untertanen mit Gewalt aufzwingen wollte –, sondern sich bei Ausbruch des Bürgerkriegs auch auf die Seite der Puritaner gestellt, die den Kampfgegen den Monarchen in der Gewissheit ihres Glaubens führten, dass man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen. McKinney hatte für diese Überzeugung mit dem Leben bezahlt, und in seinem Abschiedsbrief flehte er Clarissa an, auf keinen Fall nach England zurückzukehren, bevor sich die Lage dort wieder beruhigt hatte. Als seine Ehefrau drohe ihr Gefängnis und Tod.
Clarissa hatte den Brief, die letzten Zeilen von der Hand ihres Mannes, so oft gelesen, dass sie jedes Wort auswendig wusste, und doch konnte sie seinen Inhalt nicht fassen. McKinney hatte ihr nur die Unwahrheit gesagt, um sie vor der tödlichen Wirklichkeit zu bewahren – und wie hatte sie es ihm gedankt … Sie wollte Buße tun, sehnte sich nach Strafe, war bereit, alles zu tun, um ihren Fehltritt wieder gutzumachen. Aber wie sollte das geschehen? Auch Monsignore Spada, dem sie sich in der Beichte anvertraut hatte, wusste keinen Rat.
So blieb ihr nur das Gebet. Während die Wochen und Monate vergingen, lebte sie in völliger
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