Die Principessa
Clarissa stand auf und trat aus der Bank, entschlossen, das Gotteshaus endgültig zu verlassen. Da hörte sie hinter sich ein Räuspern.
»Ich bitte um Vergebung, Principessa, aber ich konnte nicht früher kommen.«
Sie drehte sich um. Vor ihr stand Francesco Castelli, das Gesicht gerötet, als habe er es mit Sand gewaschen, und blickte sie aus ernsten, fast traurigen Augen an. Sie hatte nur noch einen Wunsch: diesem ernsten Gesicht ein Lächeln zu entlocken.
»Sie wollten mir den Dom zeigen«, sagte sie eilig, als könne er es sich anders überlegen. »Ich freue mich schon so lange darauf.«
»Mit Ihrer Erlaubnis«, erwiderte er, »dann wollen wir mit dem Wichtigsten beginnen.«
Ohne ein Wort führte er sie in Richtung der Vierung. Was für ein seltsamer Mann! Keine Entschuldigung, keine Erklärung fürseine Verspätung. Sie war ihm in den letzten Monaten einige Male im Palazzo Pamphili begegnet, doch wunderte sie sich immer wieder aufs Neue über ihn. Oder wunderte sie sich über sich selbst? Eigentlich hätte sie wütend auf ihn sein sollen, aber sie war es nicht, obwohl er sie über zwei Stunden hatte warten lassen und sie schlechte Manieren sonst auf den Tod nicht ausstehen konnte. Sie spürte, sein Verhalten hatte mit schlechten Manieren nichts zu tun. Dazu war er viel zu schüchtern. Vor allem aber war er dazu viel zu stolz.
Vor einem mächtigen Pfeiler blieb er stehen und öffnete eine Tür, hinter der sich eine enge, dunkle Wendeltreppe verbarg.
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen?«
Clarissa stutzte eine Sekunde, doch als er ihr wie selbstverständlich voranging, zögerte sie nicht länger. Wohin führte er sie? Stufe um Stufe stiegen sie empor, und sie hatten mehrere hundert erklommen, als sie endlich eine schlichte Sakristei erreichten und Castelli mit einem Schlüssel eine zweite Tür öffnete. Als sie hinter ihm über die Schwelle trat, verschlug es ihr den Atem.
»Das ist ja«, flüsterte sie, »als wäre man im Himmel.«
Sie standen auf der Innengalerie der Kuppel. Wie ein gigantisches Zelt aus Stein, das einen unermesslich großen Raum umschloss, wölbte sich über ihnen das gewaltige Rund, ein von abertausend Sternen übersätes Firmament, von dem die Engel und Heiligen Gottes auf sie herabschauten, während das Licht in solchen Massen auf sie niederflutete, dass Clarissa darin zu ertrinken glaubte.
»Seit vielen hundert Jahren«, sagte Castelli leise, fast andächtig, »träumen die Baumeister der Welt davon, hier über dem Grab des heiligen Petrus eine Kuppel zu bauen, die sich mit der des Pantheon messen kann. Aber erst Michelangelo hat das Wunder vollbracht.«
Sie schaute ihn an. Während er sprach, verschwand alle Strenge, alle Härte aus seinem Gesicht, und seine dunklen Augen leuchteten vor Begeisterung und Leidenschaft.
»In dieser Kuppel«, sagte er, »verschmelzen Himmel und Erde, Gott und die Menschen, der ganze Kreis der Schöpfung. Alles hat seinen Ort und seinen Platz. Sehen Sie dort oben die Laterne?« Er deutete zum Scheitel der Kuppel, von dem ein noch hellerer Glanz auszugehen schien als von den hohen Fenstern des Tambours. »Dort tritt Gottvater aus den Wolken, um sein Werk zu segnen. Ihm zur Seite, zwischen den goldenen Bändern, thronen Jesus Christus und die Muttergottes über allen Engeln – die ganze himmlische Heerschar.«
Clarissa konnte den Blick gar nicht mehr abwenden von dem, was sie hier sah. Alle Unruhe, alle verwirrenden Gefühle schwanden dahin, während ihre Augen die Überfülle an Farben und Formen tranken. Es war ein Fest, ein Rausch, ein Schwelgen in überreicher Schönheit, die ihr trotz aller Pracht und Herrlichkeit so einfach und wohl geordnet erschien, als könne es gar nicht anders sein. Hier oben jubilierten die Engel, die sie hatte singen hören.
»Dann ist die Kuppel also wirklich der Himmel?«, fragte sie.
Castelli nickte. »Ja, und der Himmel wird getragen von diesen vier unglaublich starken Pfeilern – hier, da, dort und dort drüben. Das sind die Säulen des Glaubens, auf ihnen beruht die ganze göttliche Ordnung. Diesen Glauben muss die Kirche verkünden und in alle Welt tragen. Darum sind an jeder Stelle, wo das Gewölbe auf den Säulen aufliegt, die vier Evangelisten abgebildet.«
»Die Gesichter in den Kreisen?«, fragte Clarissa, die allmählich anfing, die Ordnung zu verstehen, die in den gewaltigen Steinmassen aufgehoben war.
»Markus, Lukas, Matthäus, Johannes«, bestätigte er. »Und jeder trägt sein Zeichen bei sich,
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