Die Principessa
den Adler, den Löwen …«
»Aber«, unterbrach Clarissa ihn, »wo sind wir Menschen?« Sie wandte ihren Blick von der Wölbung und schaute in den Kuppelraum hinab. Winzig klein wie Ameisen bewegten sich am Boden die Gläubigen, so weit entfernt, dass kein Laut von dort zu ihnen heraufdrang. »Was meinen Sie, ob Gott uns auch so sieht, wie wirjetzt die Menschen da unten sehen? Sie sind von hier oben kaum noch zu erkennen.«
»Sind wir Menschen so wichtig?«, fragte er zurück. »Ist Gottes Gnade nicht viel wichtiger? Er hat uns ja erlöst, durch seinen Sohn, von der Erbsünde und der Schuld unserer Geburt. Das alles wird hier, Stein auf Stein, für immer bezeugt.«
Er sagte das mit einem solchen Ernst, dass es Clarissa fast unheimlich war.
»Wir haben in England«, sagte sie, »so viele verschiedene Religionen, und jede behauptet etwas anderes. Woher … woher nehmen wir da die Gewissheit, dass Gott uns erlöst hat? Ja, woher wissen wir überhaupt, dass es ihn gibt?«
Erschrocken über ihre eigenen Worte, die ihr schneller über die Lippen gekommen waren, als sie denken konnte, verstummte sie. Doch Castelli schien keineswegs verwundert.
»Ich verstehe Ihre Zweifel«, erwiderte er, und aus seinen Augen sprach für einen Moment wieder diese grenzenlose Trauer, die in ihr stets den Wunsch weckte, er möge einmal lächeln. »Aber müssen unsere Zweifel hier nicht verstummen? Ist dieses Bauwerk nicht Zeugnis von Gottes Allmacht und Güte? Wenn Menschen, die mit unzähligen Fehlern und Lastern behaftet sind, die fluchen und lügen und die Ehe brechen und vielleicht sogar töten, wenn solche Menschen ein Werk von so makelloser Schönheit und unsterblicher Größe vollbringen – ist das nicht Beweis für Gottes Gnade und Liebe? Der vielleicht einzige unanfechtbare, unwiderlegbare Beweis seiner Existenz und seines Wirkens?«
»Sie haben Recht«, flüsterte Clarissa. »Es ist vollkommen.«
»Nein«, sagte Castelli mit seiner warmen und gleichzeitig so männlichen Stimme, »es ist mehr als vollkommen. Es ist, als hätte Gott hier durch Michelangelos Hand seine Schöpfung noch einmal neu erschaffen.«
Clarissa war so beeindruckt, dass sie eine lange Weile schwieg, erfüllt von der Heiligkeit dieses Raumes – und von ihrem eigenen Staunen. Ja, alles hier hatte seinen Sinn und seinen Platz,nichts war zufällig, jeder Stein, jede Fuge war mit Bedacht gesetzt. Und dass sie dies erkannte, hatte sie Francesco Castelli zu verdanken. Mit jedem seiner Worte war ihr ein Licht aufgegangen. Plötzlich sah sie Dinge, die sie zuvor nicht gesehen hatte, obwohl sie ihr doch vor Augen gestanden hatten. Es war fast so, wie wenn sie Olimpia einen Satz zu lesen aufgab und ihre Cousine die Reihe von Wörtern entzifferte, Buchstabe für Buchstabe, bis sich ihr plötzlich, mit einem Mal, der Sinn des Ganzen einer Offenbarung gleich erschloss.
»Bis jetzt«, sagte Clarissa, »hatte ich immer geglaubt, Architektur sei nur ein Dach über dem Kopf. Aber jetzt begreife ich: Alles hat eine Bedeutung. Als wäre …«, sie suchte nach einem passenden Vergleich, »… als wäre die Architektur ein Alphabet.«
Überrascht drehte er sich zu ihr um, und für eine Sekunde glaubte sie, ein kleines, scheues Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen, und ihr wurde ganz warm in der Brust.
»Ja«, sagte er, »Sie haben Recht. Die Architektur ist ein Alphabet – ein Alphabet von Giganten.« Für einen Moment erwiderte er ihren Blick, und das Gefühl in ihrer Brust wurde noch stärker. Hustend wandte er sich ab. »Kommen Sie! Wir haben hier oben das Wichtigste gesehen.«
Schweigend ging er voran. Clarissa folgte ihm nur widerwillig. Wie gern hätte sie ihm weiter zugehört! Es war merkwürdig, fast unheimlich: So spröde, ja abweisend er sich sonst gab, war er doch, als er ihr den Aufbau der Kuppel erklärte, ein völlig anderer Mensch geworden. Mit jedem Wort, das er sagte, gewann er an Sicherheit, an Kraft und Männlichkeit, und seine verschlossenen Züge öffneten sich, wurden mit einem Mal schön.
»Sie bewundern Michelangelo wohl sehr?«, fragte Clarissa, als sie wieder am Fuß des Pfeilers angekommen waren.
»Ich versuche von ihm zu lernen«, erwiderte er, »aber bewundern? Nein! Idole, die man bewundert, machen einen zum Sklaven.«
»Oho«, sagte sie beeindruckt. Plötzlich kam ihr eine Frage in den Sinn, kitzelte ihre Neugier so heftig, dass sie sie unbedingtstellen musste. »Haben Sie hier noch andere Dinge entworfen, Signor Castelli? Ich meine,
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