Die Principessa
Dann verschlinge ich den Marmor regelrecht und kann überhaupt keinen falschen Schlag mehr tun. Ja, die Idee«, wiederholte er, »der überraschende Einfall, darauf kommt alles an!«
Er führte sie von Skulptur zu Skulptur, erklärte ihr, warum er die jeweilige Figur so und nicht anders gestaltet hatte, von welcher Idee sie beseelt war. Unwillkürlich musste Clarissa an Francesco Castelli denken, wie er über seine Arbeit gesprochen hatte. Wie passte das zusammen? Beide waren Künstler, und doch konnten sie unterschiedlicher nicht sein. Castelli hatte ihr Gottes Willen in der Kuppel des Petersdoms gezeigt, die Ordnung der Schöpfung im Alphabet der Architektur – so ernst und erhaben wie die himmlische Ewigkeit. Und hier, bei Bernini und seinen Skulpturen, spürte sie nichts als Lebenslust und menschliche Glückseligkeit; alles schien ganz leicht und mühelos, als wäre die Kunst nur ein grandioses Spiel.
»Kunst«, sagte Bernini, als hätte er ihre Gedanken erraten, »ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt. Sie ist das einzig Ernsthafte auf der Welt. Darum darf sie niemals ernsthaft sein.«
Wieder musste sie lachen. Erst jetzt merkte sie, dass sie seit Monaten nicht mehr so oft gelacht hatte wie in der letzten halbenStunde. Wie konnte das nur sein? Fast bedauerte sie, dass sie in zwei Tagen abreisen würde. Musste sie darum ein schlechtes Gewissen haben?
Sie kehrten zu der Frauenbüste zurück, von der aus sie ihren Rundgang begonnen hatten. Clarissa zog ein Tuch aus ihrem Ärmel, um das Marmorgesicht von dem verschütteten Wein zu reinigen.
Als sie die Augen der steinernen Frau sah, zuckte sie zusammen.
»Was haben Sie? Sie erstarren ja wie Daphne vor Apoll!«
Clarissa war wie betäubt. Erst jetzt begriff sie, weshalb dieses Gesicht sie so sehr irritiert hatte. Aus den Augen der Frau sprach dieselbe Unruhe, dasselbe rastlose Verlangen, das sie selbst schon verspürt hatte, jenes Drängen und Sehnen, das sich auf nichts und gleichzeitig alles zu richten schien. Das war es, was das glatte, weiß schimmernde Gesicht beseelte. Wie tief musste der Schöpfer dieser Figur in das Herz einer Frau schauen können! Eine Frage drängte sich ihr auf, und obwohl sie wusste, dass sie sie nicht stellen sollte, sprach sie sie aus.
»Wer hat Ihnen Modell gesessen?«
»Die Frau eines Gehilfen. Warum?«
Sie antwortete nicht, unfähig zu sprechen, so stark war die Verwirrung, die sie übermannte. Denn plötzlich verspürte sie einen Wunsch, den sie zugleich wie eine gefährliche Bedrohung empfand: Sie wünschte sich an die Stelle jener fremden Frau.
Ohne ein Wort der Verabschiedung wandte sie sich ab und ließ Bernini stehen.
Als sie am Abend in den Palazzo Pamphili zurückkehrte, erwartete William sie mit einem Brief.
»Eine Eildepesche«, sagte er mit bedeutungsvoller Miene. »Aus England.«
Clarissa blickte auf den Absender: Der Brief stammte von Lord McKinney, ihrem künftigen Ehemann. Sie riss das Kuvert auf und überflog die Zeilen. Als sie ans Ende des Schreibens gelangtwar, runzelte sie die Brauen und kehrte noch einmal an den Anfang zurück. Was schrieb McKinney da?
»… König Karl hat beschlossen, künftig ohne Parlament zu regieren. Niemand kann sagen, was nun geschehen wird. Das Schicksal Ihrer wie meiner Familie steht in den Sternen. Es drohen Verbannung und Enteignung. Als Katholikin zählen Sie ebenso zu den Dissenters wie ich als Presbyterianer. Bleiben Sie vorerst in Rom, ich flehe Sie an, bis sich die Lage geklärt hat …«
Clarissa konnte kaum glauben, was sie gelesen hatte. Sie war bestürzt – und zugleich fiel ihr ein Stein vom Herzen.
»Vergebung, Principessa …«
Clarissa drehte sich um. Vor ihr stand ein Diener mit einem riesigen, über und über mit Früchten beladenen Korb.
»Der wurde soeben für Sie abgegeben. Mit einer Empfehlung von Cavaliere Bernini.«
17
Was für eine kluge Einrichtung war doch die göttliche Vorsehung! Zumindest durfte das Konklave der Kardinäle, inspiriert vom Heiligen Geist, für sich in Anspruch nehmen, bei der letzten Papstwahl die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Denn während Urban VIII. sich auch im siebenten Jahr seines Pontifikats nach wie vor bester Gesundheit erfreute, segnete sein ewig kränkelnder Bruder Carlo, der ihm den Vortritt hatte lassen müssen, um sich mit dem Amt des Befehlshabers der päpstlichen Truppen zu begnügen, am 25. Februar 1630 das Zeitliche, im Alter von achtundsechzig Jahren.
»Fast möchte ich
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