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Die Prinzen Von Irland

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Titel: Die Prinzen Von Irland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Gedanke.
    »Bald komme ich zu
euch und werde mit Caoilinn reden«, versprach Osgar, »schon sehr bald sogar.«
    Warum, so fragte er
sich, als ihr Vater gegangen war, hatte er eigentlich gezögert? War es nicht
genau das, was er sich immer gewünscht hatte? Konnte es etwas Besseres geben,
als mit Caoilinn in dem kleinen Kloster der Familie zu leben und für den Rest
seines Lebens die geistlichen und fleischlichen Freuden zugleich zu genießen?
Das war doch eine wahrhaft himmlische Aussicht!
    Was vermisste er
also? Was stimmte daran nicht? Auch er selbst wusste es kaum. Das Einzige, was
er wusste, war, dass ihn seit einigen Monaten eine sonderbare Besorgnis quälte.
Und zwar seit jenem Zwischenfall.
    Dieser Besorgnis
erregende Zwischenfall hatte sich um die Jahreswende ereignet. Er war über die
Ebene der Vogelscharen zurückgeritten, nachdem er einem kleinen Kloster in der
Gegend eine Nachricht von seinem Onkel überbracht hatte. Da es ein sonniger Tag
war, hatte sich einer der Söhne seines Onkels entschlossen, zusammen mit einem
Sklaven Osgar zu begleiten. In jenem Teil von Fingal gab es mehrere
Wikinger–Gehöfte, umgeben von riesigen offenen Feldern, und sie hatten gerade
eines überquert und waren in ein kleines Waldstück gelangt, als ihnen plötzlich
ein Halbdutzend Männer aus dem Hinterhalt in den Weg sprangen.
    Osgars Cousin hatte
ein Schwert dabei, aber er selbst trug nur ein Jagdmesser bei sich. Er sah, wie
sein Vetter mit seinem Schwert auf zwei der Männer einhieb und sie verwundete,
aber nun stürzten zwei andere auf ihn zu. Der Sklave war bereits von seinem
Pferd gerissen worden. Einer der Wegelagerer stand mit einem Knüppel über ihm.
Er erhob ihn, holte zum Schlag aus…
    Osgar wurde nie genau
klar, was dann geschah. Ihm war, als flöge er durch die Luft. Sein Jagdmesser
war aus der Scheide gerissen und lag in seiner Faust. Er landete auf dem Mann
mit dem Knüppel. Sie stürzten zu Boden, kämpften miteinander, und im nächsten
Moment war Osgars Messer dem Räuber durch den Brustkorb gestoßen, und der Kerl
hustete und spuckte Blut. Inzwischen hatten die übrigen Räuber genug von diesem
Kampf und rannten zwischen den Bäumen davon. Osgar wandte sich wieder dem Mann
zu, den er erstochen hatte. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Ein
paar Augenblicke später begann er zu zittern, dann durchfuhr ihn ein Schauder,
und er rührte sich nicht mehr. Er war tot. Fassungslos starrte Osgar ihn an.
    Sie ritten zu dem Hof
zurück, an dem sie eben vorübergekommen waren. Der große rothaarige Herr des
Hauses rief sofort seine Männer zusammen, um auf die Räuber Jagd zu machen.
»Was für ein Jammer, dass mein Sohn Harold nicht hier ist«, sagte er, und
sofort wurde Osgar klar, dass dies der hoch gewachsene Norweger sein musste,
den er vor Jahren einmal am Thingmount gesehen hatte. Als Osgar sich
vorgestellt hatte, war der große Wikinger entzückt. »Es ist eine Ehre für mich,
einem Mann der Ui Fergusa zu begegnen«, rief er strahlend. »Du hast die Räuber
tapfer zurückgeschlagen. Du kannst stolz auf dich sein.«
    Als sie spät an jenem
Abend zum Kloster zurückkehrten und von ihrem Abenteuer erzählten, gratulierte
sein Onkel ihm ebenfalls. Am nächsten Morgen war die Geschichte in ganz Dyflin
bekannt, und als er Caoilinn begegnete, war sie auf ihn zugetreten, hatte ihm
die Hand geschüttelt und mit stolzem Lächeln ausgerufen: »Unser Held!«
    Aber er fühlte sich
überhaupt nicht wie ein Held. Ja, er hatte sich in seinem ganzen Leben nie so
elend gefühlt. Und im Laufe der Tage verdüsterte sich seine Stimmung noch.
    Er hatte einen
Menschen getötet. Zwar war die Gewalt nicht von ihm ausgegangen. Er hatte
getan, was er tun musste. Und doch verfolgte ihn das Gesicht des Toten mit
seinen leblos starrenden Augen bis in die Nächte. Es erschien ihm in seinen
Träumen, aber auch, wenn er wach war – bleich, grauenhaft und sonderbar
eindringlich. Er nahm an, dass es nach einer Weile wieder verschwinden würde,
aber es suchte ihn immer wieder heim; und schon bald begann er sich auch noch
die verfaulende Leiche bildlich vorzustellen. Aber das Schlimmste war nicht so
sehr die Erinnerung, als vielmehr die quälenden Gedanken, die sie begleiteten.
    Abscheu und Ekel. So
absurd es auch war, er erlebte all das Grauen, das er empfunden hätte, wenn er
einen Mord begangen hätte. Niemals wollte er so etwas je wieder tun. Er schwor
sich, nie wieder einen Menschen zu töten. Aber wie konnte man in einer Welt

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