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Die Prinzen Von Irland

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Titel: Die Prinzen Von Irland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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waren, mit einem Mal das Gefühl, eine andere Welt zu betreten.
Auf dem grasbewachsenen Feld zwischen den beiden Wasserläufen, die sich
unterhalb des kleineren Sees vereinigten, wirkte das Gelände des Klosters wie
eine verzauberte Insel. Nachdem sie sich beim Prior gemeldet hatten, wurde
einem der Novizen befohlen, den Gast herumzuführen.
    Neben der großen
Hauptkirche mit ihrem schmucken Portal gab es eine dem Sankt Kevin geweihte
Kirche und eine Kapelle, die einem weiteren keltischen Heiligen gewidmet war.
Sie besichtigten das Dormitorium, in dem viele der Mönche wohnten; manche der
älteren, ranghöheren Mönche hatten jedoch nach keltischer Art kleine frei
stehende eigene Zellen aus gezimmerten Balken und Flechtwerk auf dem
Klostergelände.
    Das eindrucksvollste
Bauwerk im unteren Kloster war der riesige Turm. Andächtig ließen die beiden
jungen Männer ihre Blicke hinauf zu seiner Spitze wandern. An der Basis maß der
Turm sechzehn Fuß im Durchmesser, dann verjüngte er sich unmerklich bis zu seiner
kegelförmigen Spitze hundert Fuß höher, und allein schon die Größe dieser
mächtigen Röhre aus Stein ließ alles in ihrem Umkreis zwergenhaft klein
erscheinen.
    »Wir nennen ihn den
Glockenturm«, erklärte der Novize. Osgar musste mit gequälter Miene an die
bescheidene Handglocke denken, die die Mönche im Kloster seiner Familie zu den
Gebeten rief. »Aber er ist auch ein Wachturm. Oben unter der Spitze befinden
sich vier Fenster. Von dort aus kann man in alle Himmelsrichtungen blicken und
jeden sehen, der sich nähert. Wenn ein Angriff droht, bringen wir alles
Wertvolle in den Turm, und die meisten von uns haben auch darin Platz. Er hat
sieben Stockwerke. Man gelangt nur über Leitern in ihn hinein.« Er zeigte zur
Eingangstür, die sich zwölf Fuß über dem Boden befand und nur über eine schmale
Holzleiter zu erreichen war. »Wenn die Tür einmal verrammelt ist, ist es fast
unmöglich, in ihn einzudringen.«
    »Wird Glendalough
denn häufig angegriffen?«, fragte Osgar.
    »In den letzten
hundert Jahren von den Wikingern nur ein einziges Mal, glaube ich. Aber es gab
andere Probleme. Um das Land hier haben sich verschiedene der kleineren Könige
gestritten. Erst vor wenigen Jahren rückten sie an und richteten die Mühlen
unten im Tal übel zu. Aber heute wirst du keine Spur mehr davon bemerken. Die
meiste Zeit haben wir es hübsch ruhig hier.« Er grinste. »Wir drängen uns nicht
auf für den Märtyrertod.« Dann wandte er sich um. »Komm, sieh dir nun das
Scriptorium an.«
    In diesem langen,
niedrigen Gebäude war ein halbes Dutzend Mönche mit dem Kopieren von Texten
beschäftigt. Manche Werke, so fiel Osgar auf, waren in lateinischer, andere in
irischer Sprache verfasst. Voller Bewunderung sah er der kunstfertigen
kalligrafischen Arbeit zu. Ein Mönch, der an einem Tisch in der Ecke saß, weckte
seine besondere Neugier. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zeichnung, deren
Umrisse bereits vollendet waren; nun begann er eine Ecke davon mit farbigen
Tuschen auszufüllen. Osgars geschultes Auge erkannte überall raffinierte
gegenständliche Anspielungen auf Formen aus der Natur, von der zarten Geometrie
einer Kammmuschel bis zu den kräftigen Konturen des Astlochs einer knorrigen
Eiche. Wie kompliziert das Ganze war und doch wie rein und klar. Hingerissen
betrachtete er es und dachte, wie wundervoll es sein musste, sein ganzes Leben
auf eine solche Art zu verbringen. Eine Weile hatte er so dagestanden, als der
Mönch schließlich aufsah und ihnen einen finsteren Blick zuwarf, weil sie ihn
bei seiner Arbeit störten.
    »Komm«, sagte der
Novize, als sie wieder ins Freie hinaustraten, »das Beste hast du noch nicht
gesehen.« Und er führte Osgar auf einer kleinen Brücke über den Fluss und bog
nach rechts auf einen Weg, der weiter talaufwärts führte.
    »Wir nennen ihn den
Grünen Weg«, erklärte er. Als sie den Unteren See hinter sich gelassen hatten,
verengte sich das Tal. Zu ihrer Linken wurde der steile bewaldete Berghang fast
zu einer Klippe, und Osgar hörte einen Wasserfall rauschen. Zu seiner Rechten
bemerkte er einen grasbewachsenen Erdwallring von der Form eines kleinen Rath.
Und als sie zwischen einigen Bäumen hindurchgeschritten waren, sagte sein
Begleiter sanft:
    »Nun tritt ein ins
Paradies.«
    Einen Augenblick
hielt Osgar den Atem an. Der Obere See war breit und fast eine Meile lang. Wie
sich seine ruhigen Wasser vor ihm zwischen den hohen, felsigen Abhängen
dehnten, die durch die

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