Die Prinzen Von Irland
die Nachrichten des vergangenen
Abends aus Dyflin hatte sich an jenem Morgen ganz plötzlich das Wetter verschlechtert.
Aber worüber sich Bruder Osgar Gedanken machte, war nicht der Schnee, sondern
die Person, die da draußen auf ihn wartete. Vielleicht würde der Schnee sie
abschrecken. Wenn er in dem Scriptorium wartete, bis die Glocke zu den Gebeten
läutete, könnte er entwischen, ohne dass er ertappt würde. So hoffte er
zumindest.
In den letzten zehn
Jahren hatte er sich verändert. Nun hatte sein Haar hie und da graue Strähnen,
sein Gesicht einige strenge Linien und eine ruhige Würde erhalten.
Osgar war ein kunstfertiger
Kalligraph. In der klaren, gerundeten Schrift der irischen Klöster konnte er
pro Stunde ungefähr fünfzig Zeilen eines Textes kopieren. Da er sechs Stunden
pro Tag arbeitete – mehr war während dieser kurzen Wintertage kaum möglich
hatte er die Kopie des Evangeliars nahezu beendet. Noch ein Tag, und er hätte
seine Arbeit geschafft.
Er machte eine Pause
und streckte sich. Nur wer es selbst einmal versucht hatte, konnte es verstehen
– der Kalligraph bewegte scheinbar nur seine Hand, aber in Wirklichkeit war
sein ganzer Körper an der Arbeit beteiligt. Sie beanspruchte den Arm, den
Rücken, ja sogar die Beine.
Er konzentrierte sich
wieder auf seine Arbeit. Noch zwölf Zeilen, eine Viertelstunde Schweigen. Dann
sah er wieder auf. Einer der anderen Mönche begegnete seinem Blick und nickte
ihm zu. Das Licht war im Schwinden begriffen; es war an der Zeit, aufzuhören.
Osgar begann seine Feder zu reinigen.
Neben ihm standen
zwei Beutel auf dem Boden, der eine enthielt einen kunstvollen Band mit dem
Text der Evangelien und einen zweiten mit dem des Pentateuch. Die Psalmen
kannte er natürlich auswendig. Auch zwei kleine Andachtsbücher, die er immer
gern bei sich haben wollte, befanden sich darin. Der andere Beutel, in den er
nun seine Hand tauchte, enthielt seine Schreibutensilien – und noch etwas
anderes: seine heimliche Sünde.
Niemand wusste etwas
von ihr. Selbst im Beichtstuhl hatte er sie nie erwähnt. O ja, die Sünde der
Lust als solche, die hatte er an die hundert Mal gebeichtet. Ob es noch etwas
zu beichten gebe, pflegte sein Beichtvater zu fragen. Nein. Eine Lüge.
Hundertfach wiederholt. Und doch hatte er nicht die Absicht, sein Geheimnis zu
beichten, und dies aus dem guten Grund, da man dann von ihm verlangen würde,
dass er sich von seinem Talisman trennte. Und das konnte er nicht. Es war
Caoilinns Ring.
Kein Tag verging, an
dem er ihn nicht hervorholte und betrachtete. Jedes Mal lächelte er heimlich
dabei, und dann steckte er den Ring mit einer süßen Traurigkeit wieder fort.
Was bedeutete sie ihm
jetzt? Sie war das Kind mit dunklen Haaren, das er einmal hatte heiraten
wollen; das Mädchen, das sich ihm in seiner Nacktheit gezeigt hatte. Er war
darüber längst nicht mehr schockiert. Hatte er sie eine Zeit lang auch für eine
sittenlose Frau, für ein Gefäß der Sünde gehalten, so hatte er diesen Gedanken
schon bald, nachdem sie geheiratet hatte, in sich ausgelöscht. Sie war eine
ehrbare verheiratete Frau, eine christliche würdevolle Matrone. Ihr Körper, so
vermutete er, dürfte inzwischen fülliger geworden sein. Dachte sie manchmal an
ihn? Er hatte das sichere Gefühl, dass sie es tat. Schließlich dachte er jeden
Tag an sie.
Der Ring war aber
nicht nur ein sentimentaler Talisman, er half ihm auch, sein Leben in
geregelten Bahnen zu halten. Wenn er zuweilen daran dachte, das Kloster zu
verlassen, brauchte er nur den Ring zu betrachten, um sich daran zu erinnern,
dass es kaum einen Grund dafür gab, da Caoilinn mit einem anderen verheiratet
war. Wenn er sich, wie es ein, zwei Mal geschehen war, von einer Frau angezogen
fühlte, gemahnte der Ring ihn daran, dass sein Herz an eine andere vergeben
war. Und wenn vielleicht ein Mönch – wie der junge Novize, der ihn als Erster
durch Glendalough geführt hatte ihm zu nahe zu kommen schien und er sich aus
reiner Freundlichkeit dazu verleiten ließ, einen sanften Blick oder eine
Berührung zu erwidern, so brauchte er nur das kleine Andenken an Caoilinn aus
seinem Beutel zu holen, um all die Gefühle neu zu beleben, die er in all jenen
Jahren für sie gehegt hatte, und um sicher zu sein, dass er sich nicht auf
jenen anderen abschüssigen Weg begeben würde, den manch einer seiner
mönchischen Brüder ging.
Noch eine Stunde, bis
die Glocke zum Gebet läuten würde. Die anderen Mönche schlurften bereits
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