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Die Prinzen Von Irland

Die Prinzen Von Irland

Titel: Die Prinzen Von Irland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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in
Richtung Tür, aber er folgte ihnen nicht. Denn er wusste genau, wie er die
verbleibende Zeit verwenden wollte. In der Ecke auf einem Lesepult lag ein
großer Foliant. Normalerweise wurde er in der Sakristei der großen Steinkirche
aufbewahrt, aber man hatte ihn vorübergehend in das Scriptorium gebracht. Er
war gebunden in Buchdeckeln aus Silber, besetzt mit Edelsteinen. Nun nahm Osgar
eine Kerze von einem Tisch und trat an das Buch heran. Eine der Gemmen funkelte
im Schein der Kerzenflamme auf.
    Der größte Schatz im
Kloster Keils. Das große Evangeliar. Die große Chance, einige Zeit mit dem
prachtvoll illuminierten Text verbringen zu können, war es gewesen, was ihn vor
zwei Monaten nach Keils geführt hatte. In Glendalough hatte er in der Kunst der
Kalligraphie so rasche Fortschritte gemacht, dass er sich auf die Illustration
spezialisierte, in der er gleichfalls Talent bewies. Als Belohnung für das zwei
Monate lange Kopieren von Texten hatte man ihm erlaubt, sich aus dem Kloster zu
entfernen, um Buchillustrationen in der Sammlung von Keils und vor allem die
berühmten Evangeliare zu studieren, womit er sich jeden Morgen zwei Stunden
lang beschäftigte. Diese zusätzliche Stunde war daher eine besondere Gunst. Als
er das Pult erreicht hatte und gerade die Hand ausstreckte, vernahm er ein
Zischen dicht an seinem Ohr. Es war der greise Klosterbruder, dem das
Scriptorium unterstand.
    »Ich sperre jetzt
zu.«
    »Wenn Ihr möchtet,
kann ich später die Tür schließen und Euch danach den Schlüssel geben.«
    Auf diesen Vorschlag
reagierte der Greis nur mit stummer Verachtung. Osgar seufzte und ging hinaus.
    Ringsum Stille. Der
leichte Wind hatte sich gelegt. Schneeflocken trieben ihm ins Gesicht. Die
letzten Schimmer Tageslicht verliehen der bleichen Szenerie ein gespenstisches
Leuchten. Er suchte mit den Augen die Straße ab und spähte den Abhang hinunter
nach dem Torhaus des Klosters. Von Schwester Martha keine Spur. Keine
Menschenseele zu sehen. Vielleicht sollte er nicht sofort ins Dormitorium
gehen, sondern sich noch ein wenig die Beine vertreten und einen Spaziergang
bis zum Torhaus hinunter machen. Mehr um sein Gesicht zu verbergen als um sich
gegen den leichten Schnee zu schützen, zog er sich die Kapuze über den Kopf und
begann die Straße entlangzubummeln.
    In diesen
gefährlichen Zeiten war es zweifellos ein beruhigendes Gefühl, sich innerhalb
der dicken Mauern von Keils in Sicherheit zu wissen. Die Anlage erstreckte sich
über die ganze Weite des sanften Hügels, hatte einen Markt und war im Grunde
eine mittelalterliche Stadt.
    Er trat durch den
Torbau auf den leeren Marktplatz hinaus. An einer Seite stand ein stattliches
Steinkreuz, dahinter mehrere Planwagen, weiß bestäubt mit Schnee. Er blickte in
die Runde: Alle Verkaufsbuden und Werkstätten waren geschlossen. Aus einem
Kuhstall schimmerte eine einsame Laterne, aber die einzigen Anzeichen
menschlichen Lebens waren die Rauchschwaden, die aus den Öffnungen der
Strohdächer der umliegenden Wohnhütten aufstiegen. Osgar machte kehrt, tat drei
tiefe Atemzüge, beschloss, dass er sich für heute genug Bewegung verschafft
hatte, und wäre im nächsten Moment gegangen, wenn er nicht plötzlich bemerkt
hätte, wie aus einem der Wagen eine Gestalt auftauchte. Es war nicht Schwester
Martha, aber irgendwie kam ihm die Gestalt bekannt vor.
    Es war Morann, der
Goldschmied aus Dyflin. Er hatte ihn seit Jahren nicht gesehen und den Mann
damals auch nur flüchtig gekannt, aber er hatte ein Gesicht, das man so schnell
nicht vergaß. Der Handwerker war überrascht, schien aber erfreut über das
Wiedersehen und erklärte Osgar, warum er hier Schutz suchte.
    »Letztes Jahr habe
ich den Abt mit ein paar hübschen Kerzenleuchtern beehrt«, sagte er
schmunzelnd, »und so ist man hocherfreut, mir Unterschlupf zu gewähren.«
    »Und Ihr meint
wirklich, dass Brian Boru jetzt Dyflin zerstören wird?«, fragte Osgar.
    »Dafür ist er zu
schlau«, entgegnete Morann. »Aber er wird ihnen eine furchtbare Lektion
erteilen.«
    »Aber die Klöster
sind doch sicher, nicht wahr?« Osgar dachte dabei vor allem an das kleine
Kloster seiner Familie.
    »In der Vergangenheit
hat er sie zumindest immer respektiert«, antwortete Morann.
    Nun waren sie vor dem
großen Kreuz auf dem Marktplatz stehen geblieben. In Keils gab es mehrere
dieser steinernen Hochkreuze mit kunstvoll eingemeißelten Reliefs, die wie die
Rundtürme zu einem typischen Merkmal der Klöster auf der Insel

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