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Die Prinzen von Queens - Roman

Die Prinzen von Queens - Roman

Titel: Die Prinzen von Queens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Happy-Meal-Spielsachen, die er für ihn gesammelt hatte.
    Alfredo will seinen Bruder nach den muslimischen Jenseitsvorstellungen fragen, aber Tariqs Augen sind geschlossen. Seine Atmung ist ruhig geworden. Luft pfeift ihm aus der Nase. Alfredo hat keinen Schimmer, wie das möglich ist. Vor nicht mal fünf Minuten hat Tariq Pierre ein Milchglas im Gesicht zerschlagen und damit Baka ganz offiziell gegen Alfredo aufgebracht. Und jetzt? Sinkt ihm der Kopf auf die Brust. Während Alfredo Panik schiebt, seine Magensäure brodelt, macht Tariq mal eben Ratzepüh.
    »Schläfst du?« Als sein Bruder nicht antwortet, sagt Alfredo: »Kann ja wohl nicht dein scheiß Ernst sein.«
    Er will nach Hause. Er will in Isabels Arme sinken und selbst Ratzepüh machen, so lange schlafen, bis alle Fehden dieser Welt vergessen sind, die Ozonschicht verschwunden und die Erde explodiert. Klar, irgendwann während des Nickerchens wird Izzys Fruchtblase platzen, und Louis auf seinem Einstand beharren. Aber bis dahin… Alfredo fragt den Fahrer, ob er möglicherweise etwas schneller fahren könne. Bin etwas in Eile, erklärt er. Der Fahrer umfasst das Lenkrad mit beiden Händen. Er beugt sich nach vorn, der Rückspiegel umrahmt seine Augen. Alfredo ist sich nicht sicher, ob er dem Mann irgendwie zu nahe getreten oder vielleicht gar nicht verstanden worden ist. Gerade will er sich wiederholen, als die plötzliche Turbobeschleunigung des Wagens ihn in den Sitz schleudert. Durch Alfredos spaltbreit geöffnetes Fenster jault Fahrtwind ins Taxi. Von der Ghetto-Kutsche einmal abgesehen, ist Alfredo noch nie in seinem Leben selbst gefahren, hat noch nie in der Spur bleiben oder die Straße im Blick behalten müssen, und konnte daher, wenn er als Mitfahrer andere überholte, durchs Fenster die Leute in den anderen Autos betrachten, die immer rückwärts zu fahren scheinen, als würden sie in die Vergangenheit gesogen. Er mag es, sie in einem abgeschotteten Moment der Privatheit zu ertappen – wie sie in der Nase bohren oder mit dem Kopf zu einem Song nicken, den er nicht hören kann. Aber als Alfredo jetzt aus dem Fenster sieht, ist niemand zu erkennen. Bloß ein paar verschwommene Gestalten, die hinter verschwommenen Lenkrädern kauern. Das Taxi ist einfach zu schnell. Da ihm also auch diese Freude versagt bleibt, wendet er sich wieder seinem Bruder zu, der noch immer schläft. Ein leises Schnarchen dringt aus den Tiefen seiner Kehle. So eine gequirlte Scheiße, denkt Alfredo. Er knibbelt an den Stickern auf seinem Fenster. Videoüberwacht? Zu meiner Sicherheit? Das ist doch Schwachsinn, und so langsam hat Alfredo es ein wenig satt, wird misstrauisch gegenüber all den Leuten, die behaupten, sie wollten nur sein Bestes.
    Indem er Pierre die Fassade ruiniert hat, hat Tariq potenzielle Verbündete zu definitiven Feinden gemacht. Gern geschehen, hat er gemeint. Es ist wichtig zu wissen, wer deine Feinde sind. Hier, häng dir die Zielscheibe um den Hals. Jetzt weißt du genau, in welche Richtung die Kugeln fliegen werden.
    Alfredo wird klar, dass es zwei Möglichkeiten gibt. Entweder ist sein Bruder ein Idiot mit einem unausgereiften Plan, oder er ist sowohl wesentlich schlauer als auch gefährlicher, als Alfredo bislang vermutet hat. Alfredo wünscht sich, ihm fielen noch ein paar konkurrenzfähige Erklärungen ein. Säße er irgendwo, wo es dunkel ist, ruhig, und er ganz für sich, wo man nicht gleich Kopfschmerzen kriegt, dann würde ihm vielleicht noch etwas anderes einfallen, aber im Moment ist das alles: Tariqs Plan ergibt nur Sinn, wenn er nicht zum Ziel hat, Alfredo zu beschützen, sondern ihn direkt ins Fadenkreuz zu schubsen.
    Alfredo – der permanent gegen die Erschöpfung kämpft, dessen Job ihn nachts wachhält, dessen Aktenschrank ihn darüber hinaus vom Schlafen abhält, der vielleicht drei oder vier Stunden abbekommt, bevor die Sonne durch die Lamellen knallt, bevor Isabel ihn wegen eines Voruntersuchungstermins weckt, bevor sein Vater ihn wegen eines Gefallens weckt, bevor seine Mutter ihn wegen einer Beschwerde weckt, bevor Winston ihn mit der Bitte weckt, doch in den Park zu kommen – sieht zu, wie Tariq den Schlaf der Gottlosen und der Frevler schläft. Die Augen weiterhin geschlossen, und der Mund steht offen. Da der Kopf auf der Brust liegt, wird am Nackenansatz eine kleine Vertiefung sichtbar. Eine kleine Kuhle, tief genug für einen Fingerhut voll Wasser. Eine weiche und vertraute Einbuchtung. Aus tausend Fotos von tausend Nacken

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