Die Prinzen von Queens - Roman
oder sogar tagelang in betretenem Schweigen weitergegangen. Aber das war ganz sicher in dem Moment vergessen, als sie schließlich Mount Hood passierten und zum ersten Mal den schimmernden Pazifik sahen. Auftrag ausgeführt! Grinsend klatschen Winston und Alfredo ab. Denn hier, endlich, wartet ihr Hauptgewinn: Ein Hund, ein ziemlicher finsterer außerdem. Nur Zentimeter entfernt, nah genug für einen Nasenstupser. Alfredo spürt den heißen Atem auf seinen Knöcheln. Der Dobermann tritt vor, sein Stimmungsbarometer sichtlich im Keller.
In einer bedrohlichen Situation schaut ein Hund häufig nach seinem Herrchen und wartet auf Handlungsanweisungen. Stechender Blick, geöffneter Mund, angespannte Arme, flacher Atem: Sieht ein Hund diese Merkmale bei seinem Halter, weiß er, dass er angreifen muss. Aber der Besitzer des Dobermanns ist nicht da. Der Besitzer des Dobermanns – Mr. Allouez vom Allouez Secondhand-Gebrauchtwagen-Supercenter – ist möglicherweise daheim auf Long Island und schaut zu, wie David Letterman Bleistifte nach der Kamera wirft. Ohne Mr. Allouez’ nonverbale Hinweise muss der Dobermann selbst Entscheidungen treffen.
»Guck ihm nicht in die Augen«, flüstert Alfredo.
Der Hund macht einen Satz nach vorn. Er steht auf den Hinterläufen, knirscht mit den Zähnen und kratzt am Metall. Verteilt Speichel, dickflüssig und schwer, am Zaun. Dem gebenedeiten Zaun. Der Dobermann dreht den Kopf zur Seite und schiebt seine lange Schnauze vorsichtig in eine rautenförmige Drahtmasche. Zieht die Lefzen hoch und entblößt spitze gelbe Zähne.
»Jesus Christus«, sagt Alfredo und – um die Blasphemie wiedergutzumachen – bekreuzigt sich gleich darauf. Er und Winston machen einige große Schritte weg vom Zaun. Ihre Absätze ragen über die Gehwegkante hinaus. »Du hast ihm in die Augen geguckt.«
»Ich hab ihm in die Augen geguckt«, sagt Winston. Er legt die Hand aufs Herz. »Und wo ich das schon zugegeben habe, kann ich auch gleich noch was anderes zugeben: Ich gehe nicht in die Nähe dieses Hundes.«
Tja, dumm gelaufen, denkt Alfredo. Weil auch ich mich dieser Misttöle nicht nähern werde. Aber damit fangen ihre Probleme erst an. Dieser Dobermann knurrt nicht nur, er knurrt auf einem gut ausgeleuchteten Gelände, das von einem sechs Meter hohen Zaun umgeben ist. Alfredo schließt die Augen. Betrachte das Ganze als mathematische Gleichung mit komplizierten Zahlenreihen, Plus- und Minuszeichen, einem Haufen Klammern. Du musst das Problem in kleinere Teilprobleme aufspalten und den jeweiligen Haken im Einzelnen betrachten. Löst man den ersten Teil, so hofft Alfredo, wird einem das bei der Lösung des zweiten helfen.
Er greift in sein Tütchen mit verschreibungspflichtigen Pillen und fischt eine Valium heraus. Die Pille – zehn Milligramm, die kleinste Dosierung, die er anbietet – kostet auf der Straße rund fünfzehn Dollar. Geld wegzuwerfen tut weh, aber das ist der Preis, den man zahlt. Man zahlt, um zu verdienen. Die Pille in der Hand, begibt Alfredo sich in Wurfposition.
Eine der größten Enttäuschungen seiner Kindheit war seine Verbannung aus der grasgrünen Welt des Little-League-Baseball. Die Baseballfelder in Elmjack lagen über sechs Kilometer von Alfredos Zuhause entfernt, und nach Jose Seniors Unfall und nachdem die Autos verkauft waren und Lizette bei Augenarzt Remmelts angefangen hatte, gab es niemanden mehr, der den elfjährigen Alfredo zu Spielen bringen konnte. Diese sechs Kilometer waren unüberwindlich, und damit war Alfredo aus dem Vereinsbaseball verbannt. Sein Ausstieg hätte möglicherweise weniger Türenknallen im Hause Batista nach sich gezogen, hätte Alfredos Bruder nicht das volle Jugendligaprogramm durchlaufen. Oder wenn die Leute nicht ständig darüber gesprochen hätten, wie gut sein Bruder war. Die Dinger, die der geschlagen hat – wie am Faden gezogen! Die Bälle, die der im Rückwärtslaufen noch gefangen hat! Hätte Alfredo bis hoch zur Babe-Ruth-Jugend in der Little League bleiben können, wer kann schon sagen, ob er nicht genauso gut wie Jose Jr. oder sogar besser geworden wäre? Und mit den zusätzlichen Jahren in Elmjack, den zusätzlichen Spielen und Trainingseinheiten, der Förderung durch Trainer und Assistenztrainer, dem jahrelangen Anfeuern seiner Mutter, die zwischen den Innings ihre Kreuzworträtsel löste – mit all dem hätte Alfredos Arm sich möglicherweise zu voller Blüte entfaltet und er wäre jetzt derjenige, über den sie sprachen, wenn sie
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