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Die Prinzen von Queens - Roman

Die Prinzen von Queens - Roman

Titel: Die Prinzen von Queens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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siebten Mal innerhalb der letzten zwanzig Minuten wählt er Winstons Nummer. Mit den Knöcheln klopft er gegen den Schnabel eines hölzernen Papageis, hofft – betet richtiggehend –, dass diesmal jemand drangeht. Ruf mich einfach zurück. Sag mir zumindest, dass das Telefon an ist.
    Hey, ähm, hinterlasst doch ne Nachricht.
    Der Fernseher wirft flackerndes Licht auf Papis schlafendes Gesicht. Jose guckt in unzumutbarer Lautstärke Home Shopping Network, vielmehr hat er geguckt. Kaufen tut er eh nichts, zumindest nicht mehr, seit Lizette seine Kreditkarte gekündigt hat. Ungefähr ein Jahr nach dem Unfall kam plötzlich jeden zweiten Tag ein HSN-Paket: Kerzenhalter, Digitalkameras, Staubsauger, Kölnisch Wasser, ein Bauch-Weg-Gürtel, Dual-Drill-Akkuschrauber, Flusenroller, Magic-Bullet-Mixer, Saugnapfhaken, Vakuum-Kleidersäcke Marke Space Bags, ein Messerschleifer namens Samurai Shark, Dr. Hos Nackenmassagegerät und die Schminkpalette von Lauren Hutton. Diese braunen Pakete wurden für Jose zu einer der wenigen Möglichkeiten, mit der Welt außerhalb der Drei-Zimmer-Wohnung zu kommunizieren. Die Klappleitern und Super-Duper-Wischmops waren sein Klatsch und Tratsch, sein Gang zum Supermarkt.
    Alfredo schaltet den Fernseher aus. In der unvermittelten Stille kippt Joses Kopf nach hinten, und er schnarcht noch lauter als vorher. Sein Gesicht glänzt vor Schweiß. Es ist heiß im Zimmer – sogar noch heißer als draußen –, und jedes Grad scheint Joses Wangen und Nacken zu lasieren. Selbst seine Brille ist beschlagen. Alfredo weiß, dass Tariq morgen früh aus dem Knast nach Hause kommen und dieses Gesicht – die Leberflecke, den grau gesprenkelten Bart – sehen und denken wird, ihr Vater sei um Jahrzehnte gealtert. Aber das stimmt nicht, denkt Alfredo. Überhaupt nicht! Sieh dir das Button-down-Hemd an, das Jose trägt. Die mit Gel zurückgekämmten Haare. Das sind keine Zeichen runzliger Schwäche, sondern vielmehr Bollwerke dagegen. Zugegeben, eine Kotelette ist länger als die andere, aber versuch du mal, dich im Rollstuhl zu rasieren, wenn du dich gerade mal im unteren Rand des Spiegels siehst. Reicht es nicht, großer Bruder, dass Papi sich überhaupt rasiert? Wie kann man einen Mann als alt bezeichnen, dessen Wangen immer noch nach Aqua Velva riechen? Dessen Lippen voller Kirschsaftflecken sind?
    Sicher, Alfredo war, anders als Tariq, noch nie zweieinhalb Jahre weg gewesen. Er weiß zwar, wie es ist, wenn der eigene Vater sich verändert – vom Geher zum Sitzer, von aufrecht zu gebro-chen –, aber er weiß und versteht auch nicht, was es heißt, den Mann plötzlich gealtert zu sehen. Nur eine nennenswerte Trennung hatte es gegeben, damals, als Alfredo in der dritten Klasse war und Jose vier Tage bei einer Weißen in Rego Park gewohnt hatte. Vier Tage – mehr nicht, die längste Zeitspanne, die Vater und Sohn ohne einander verbracht hatten. Alfredo hatte sich weder bei einem College eingeschrieben noch war er zur Handelsmarine gegangen. Nicht mal in einem Ferienlager war er gewesen. Im Wohnzimmer, im Dunkeln, nähert er sich dem Rollstuhl seines Vaters, weicht dem leeren Schlafsofa aus, streift gleichzeitig einen tiefhängenden Papagei und fragt sich, ob jetzt nicht der Zeitpunkt gekommen ist, sich einfach zu verpissen. Das Zimmer, die Wohnung, das Viertel, den Stadteil, dieses New York einfach hinter sich zu lassen. In ein paar Stunden kommt sein Bruder nach Hause. Auf der Straße läuft ein Typ herum, der Drogendealer killt, Vladimir rächt. Vielleicht. Was Alfredo vielleicht also tun sollte, ist, eine Tasche zu packen, sich und seiner schwangeren Freundin eine Busfahrkarte zu kaufen und sich nach … Westen oder so aus dem Staub zu machen. Alfredo fällt auf, wie sich seine Lippen bewegen. Bescheuerte Idee. Was würde er Isabel sagen? Wir müssen für eine Weile raus aus Jackson Heights. Nee, nichts Schlimmes. Schon eine Menge Frauen haben hinten in einem Greyhound die Wehen bekommen. Durch die Dunkelheit tappend, tritt er aus Versehen eine Schale um. Kirschkerne und -stiele fliegen über den Fußboden. Die Schale macht kloing kloing .
    »Volltreffer«, sagt Jose. Durch seine Brillengläser hindurch starrt er zu Boden. An einigen der Kerne hängt grellrotes Kirschfleisch. Daraus blutet es in Lizettes Teppich.
    »Du sollst hier doch nicht essen«, sagt Alfredo.
    »Du sollst nicht gegen meine Schale treten.«
    Zum Streiten zu müde, tritt Alfredo hinter den Rollstuhl. Ihm tun die Füße weh. Seit

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