Die Probe (German Edition)
Zweifel, Vorwürfe und Gewissensbisse auf sie ein, die sie in letzter Zeit immer häufiger bedrängten. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie damals auf ihre innere Stimme gehört hätte, ohne sich von Ryans Leichtigkeit des Seins, seiner sprühenden Lebensfreude und seinem naiven Kampf für eine gerechtere Welt blenden zu lassen? Wieder hatte sie das schale Gefühl, das falsche Leben gelebt zu haben, und wieder schämte sie sich ein wenig, als würde sie Ryan noch nach seinem Tod betrügen. War es möglich, dass ihr Onkel recht hatte, dass sie für Charlie schon früher mehr war als ein guter Kumpel? Sie hatte ihn stets als ernsthaften und zuverlässigen Freund betrachtet, ihn um seine Disziplin beneidet. Wenn er sprach, dann mit Substanz und hintergründigem Witz, ein Humanist im klassischen Sinne. Sie empfand großen Respekt für ihn, seit sie ihn kannte. Aber sie spürte jetzt mehr denn je, dass das nicht alles war. Sie musste ihren Onkel ziemlich konsterniert angesehen haben, denn er entschuldigte sich sofort auf seine Weise:
»Sorry, Sonnenschein, geht mich ja nichts an.« Sie ging nicht weiter darauf ein, schließlich war sie nicht hierher gekommen, um über ihr verwirrendes Gefühlsleben zu sprechen.
»Ich – möchte dich um einen großen Gefallen bitten, Onkel«, begann sie zögernd.
»Alles, was du willst, Mädchen.« Er strahlte in freudiger Erwartung. Für seine Lauren hätte er den Himmel auf die Erde geholt, das wusste sie. Sie öffnete ihre Aktentasche und legte einen dicken Umschlag auf den Tisch.
»Da drin befinden sich wichtige Dokumente. Ich habe eine unglaubliche Entdeckung gemacht, über die ich jetzt nicht reden kann, aber in diesem Kuvert ist alles dokumentiert. Es muss ein Geheimnis bleiben und sicher aufbewahrt werden. So sicher, dass niemand anders auch nur in die Nähe kommt. Würdest du das für mich tun?«
»Natürlich«, antwortete der Onkel ohne zu zögern. Dann fragte er mit schelmischem Blick: »Ist es heiße Ware?«
»Quatsch«, lachte sie. »Aber es ist wirklich außerordentlich wichtig, darum bin ich zu dir gekommen. Du bist der einzige Mensch, dem ich voll vertrauen kann.«
»Das will ich auch hoffen«, brummte er. »Du traust wohl den Banksafes auch nicht.«
»Eigentlich schon, aber dann hätte ich dir den Schlüssel gebracht. Man darf bei mir nichts finden.« Er wog das Kuvert in den Händen und überlegte. Plötzlich schien er zu wissen, was zu tun war.
»Ich habe das perfekte Versteck für dein Geheimnis. Kein Mensch wird dort nach deinem Umschlag suchen.«
Roxby Downs, Australien
Daisy lächelte, als sie die SMS las. Beeile dich, es gibt Neuigkeiten. Vermisse dich! Renate . Rapunzel musste sich wohl oder übel noch etwas gedulden. Sie wartete an der Schranke zum Gelände der Uranmine auf den Beauftragten der Geschäftsleitung, der sie durch die Anlage führen sollte. Sie war gut vorbereitet nach den Gesprächen mit kritischen Umweltschützern in Adelaide, mit denen Ryan Kontakt gehabt hatte. Die ließen kein gutes Haar an der Betreiberfirma. Es gab immer wieder kleinere und größere Pannen in den vergangenen Jahren, die Saitou zu vertuschen suchte oder viel zu spät meldete. Und nun wollten die gleichen Verantwortlichen die Förderkapazität praktisch verdoppeln. Sie musste sich neutral und möglichst objektiv verhalten, wie ihr das Charlie als Erstes eingebläut hatte, als sie die Stelle bei ihm antrat. Obwohl sie den Ärger und die Verbitterung der Umweltschützer verstehen konnte, wollte sie sich nicht mit der unverarbeiteten Vergangenheit aufhalten. Ihr Job war, zu untersuchen, ob die Auflagen für die geplante Erweiterung der Mine genügten und ob Saitou sich auch daran hielt. Ein schlanker Mann mittleren Alters mit einem Ansatz von grauen Schläfen trat auf sie zu. Er trug den gelben Einheits-Overall mit dem unerlässlichen Dosimeter und einen weißen Schutzhelm. Er begrüßte sie kühl mit einem flüchtigen Händedruck, als hätte sie Giftdrüsen an den Fingern:
»Guten Tag Miss Hayman, ich bin Bill Reynolds von der Betriebsleitung. Bitte folgen Sie mir.« Als externe Kontrolleurin hatte sie keinen roten Teppich erwartet, aber Reynolds Begrüßung empfand sie doch als etwas sehr australisch. Er führte sie in einen Raum mit Umkleidekabinen, wo einer der gelben Anzüge für sie bereit lag. »Bitte ziehen sie das an, ist Vorschrift. Ich warte draußen«, sagte er und ließ sie allein. Eine Tafel in der Kabine machte in deutlicher Bildersprache auf die zehn
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