Die Prophetin vom Rhein
Ruben!«
»Spürst du denn noch gar nichts?«, fragte Theresa nach einer Weile besorgt, weil es ihr inzwischen zu lange dauerte.
»Glück - und das gleich fuderweise!«
»Gib einem der beiden die Brust«, empfahl Theresa, weil Eva ihr beigebracht hatte, dass das Einschießen der Muttermilch die Nachgeburt in Gang setzen konnte.
Ruben schien zu müde zum Trinken, Judiths winzige Lippen aber schlossen sich fest um die Brustspitze. Hanna stieß ein leises Stöhnen aus, dann begann sie erneut zu lächeln.
»Wie gierig sie trinkt! Was aber, wenn jetzt auch er hungrig wird? Wird meine Milch dann für beide reichen?«
»Gib euch Zeit«, sagte Theresa, »den Kindern und dir selbst! Es wird ein Weilchen dauern, bis ihr euch aneinander gewöhnt habt. Daran solltest du denken, Hanna, wenn dir mittendrin alles über den Kopf zu wachsen droht. Vertrau dir! Dein Körper hat zwei Kinder getragen. Er wird dir auch die Milch für zwei schenken.«
Ein dankbares Nicken war die Antwort. Man hörte die Kleine friedlich schmatzen.
»Und?«, fragte Theresa schließlich. »Spürst du jetzt etwas?«
»Vielleicht ein zartes Ziehen. Mehr ist es nicht.«
Das reichte bei Weitem nicht aus. Theresa wurde immer unruhiger. Viel länger konnte sie nicht mehr warten, wollte sie Hanna nicht in Gefahr bringen. Im Kopf ging sie alles durch, was die beiden Wehmütter, bei denen sie gedient hatte, ihr beigebracht hatten. Sie war keine fertig ausgebildete Hebamme, doch das wusste nur sie allein. Niemand in Trier konnte erfahren haben, dass sie ihre Lehrzeit niemals abgeschlossen hatte. Die alte Wehmutter war gerade wie viele andere Trierer am Fleckfieber gestorben, als Willem und sie auf ihrer Flucht die Stadt an der Mosel erreicht hatten. Allen war es damals wie eine göttliche Fügung erschienen, dass die junge Frau des flämischen Händlers ausgerechnet Hebamme war.
Seitdem riefen sie Theresa, sobald ihre Stunde gekommen war. Sie galt als die neue Wehmutter von Trier, und es gab weit und breit niemanden mehr, den sie bei schwierigen Fällen hätte zurate ziehen können. So würde sie nun ohne Rückversicherung jenen speziellen Griff anwenden müssen, den Meline ihr nur ein einziges Mal vorgemacht hatte.
Und wenn er misslang?
Das durfte nicht geschehen, wenn sie einen aufgeregten kleinen Jungen, der ungeduldig vor der Tür hin und her trippelte, nicht noch unglücklicher machen wollte.
»Ich werde dir jetzt leider wehtun müssen«, sagte sie zu Hanna. »Aber es dauert nicht lang, wenigstens das kann ich dir versprechen. Du wirst es ebenso schnell vergessen haben wie die Schmerzen zuvor.« Sie spreizte ihre Hand, um sie geschmeidiger zu machen.
Hanna musterte sie besorgt.
»Es ist doch alles in Ordnung?«, fragte sie leise. »Wenn nicht, dann musst du es mir sagen.«
Theresa nahm die beiden Kinder und legte sie nebeneinander in die Wiege neben dem Bett.
»Du bekommst sie gleich wieder zurück«, sagte sie. »Stell die Beine auf! Alle beide! Schaffst du das? Ja, so ist es gut.«
Von außen rieb sie leicht in Höhe der Gebärmutter, um eine Wehe auszulösen. Als es so weit war, legte sie den Daumen auf die Vorderwand, während die übrigen Finger die Rückseite umfassten, und begann zu drücken.
Ein schriller Schmerzensschrei.
Unbeirrt griff Theresa nach der Nabelschnur und zog behutsam an ihr. Jetzt endlich löste sich die Secundia, wie Hebammen die Nachgeburt nannten. Sie fing sie in einer Schale auf, trug sie ans Fenster und untersuchte sie eingehend im Licht des späten Nachmittags.
Dazu stülpte sie die Eihäute nach unten und versuchte sich ein Bild von der Vollständigkeit zu machen. Die kindliche Seite war blaurot, glatt und spiegelnd, die mütterliche Seite fleischig und von dunklerem Rot. Die Secundia war groß, aber makellos an den Rändern, worauf es besonders ankam. Nicht ein Stück fehlte.
»Alles genau so, wie es sein sollte.« Erleichtert wandte Theresa sich der jungen Mutter zu. »Deine Zwillinge haben sich einen Mutterkuchen geteilt. Weißt du, was das bedeutet? Ein Leben lang werden sie die allerbesten Freunde sein, so sagt man wenigstens.«
Zu ihrer Verblüffung begann Hanna laut zu schluchzen. Und der kleine Ruben wachte auf und krähte jämmerlich los.
»Du musst doch keine Angst haben«, versuchte Theresa die junge Mutter zu beruhigen, hob die Kinder aus der Wiege und legte sie wieder neben die Wöchnerin. »Jetzt kann sie dir keiner mehr nehmen.«
»Das ist es nicht.« Tränen rannen über Hannas Gesicht.
Weitere Kostenlose Bücher