Die Prophetin vom Rhein
in Dir nicht versiegt!
»Ist das nicht etwas zu hart dem Kaiser gegenüber?« Bruder Volmar sah die Magistra bedenklich an.
»Ich finde, er hat recht mit seinem Einwand, hochwürdige Mutter«, schaltete sich nun auch Schwester Hedwig ein. »Zumal wir ja noch immer auf den kaiserlichen Schutzbrief hoffen. Erst wenn wir auch diese Urkunde in Händen halten, wird unser Glück vollständig und die Zukunft dieses Klosters für alle Zeit gesichert sein.«
Hildegard erhob sich. Jeder Zoll ihrer Haltung verriet den Unmut, der in ihr aufstieg.
»Bin ich jetzt nur noch von Kleinmütigen umgeben?«, rief sie. »Wie könnt ihr es wagen, so berechnend zu denken? Das Lebendige Licht, das mir diese Worte eingab, kennt weder Titel noch Rang. Vor ihm sind alle Menschen gleich: Sünder und doch Geschöpfe Gottes, die Er von ganzem Herzen liebt. Einzig und allein aus Liebe lässt es Friedrich Barbarossa diese Warnung zukommen. Er steht in der Verantwortung, das Schisma, zu dem er selbst beigetragen hat, so schnell wie möglich wieder zu beenden. Denn wie jeder menschliche Körper nur ein Haupt haben kann, das ihn lenkt, so bedarf auch die heilige Kirche eines einzigen würdigen Nachfolgers Petri, der ihre Geschicke leitet.«
Sie war in ihrer Empörung so laut geworden, dass viele der gerade noch eifrig gebeugten Köpfe von ihren Schreibpulten hochschreckten. Niemals zuvor war es im Scriptorium so voll gewesen, weil immer mehr Frauen die Aufnahme in das Kloster auf dem Rupertsberg begehrten; mehr als fünfzig Nonnen lebten inzwischen hier. Nicht nur Adelige, sondern auch viele Mädchen und Frauen aus Ministerialienfamilien oder einfachem Bürgerstand wollten Bräute Christi werden. Doch war die Magistra bislang ihren Prinzipien treu geblieben und hatte alle abgewiesen,
die nicht von edler Geburt waren. Gott hat die Menschen mit Bedacht unterschiedlichen Ständen zugeordnet, die sie ein Leben lang nicht verlassen sollten, so lautete ihre tiefste Überzeugung. Und dennoch tat ihr es in der Seele leid, so viele fromme Bewerberinnen vor den Kopf stoßen zu müssen. Die Lösung, überlegte sie, könnte eines Tages ein zweites Kloster sein, dem Rupertsberg angegliedert, in dem auch nichtadelige Schwestern nach der regula Benedicti lebten und arbeiteten. Doch bis es einmal so weit war, mussten erst noch viele andere Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden.
»Niemand von uns würde sich jemals anmaßen wollen, die Weisheit des Lebendigen Lichts anzutasten«, lenkte Hedwig ein, die wusste, wie nachtragend die Magistra sein konnte, wenn sie sich geärgert hatte. »Es ging uns einzig und allein um die Art der Formulierung …«
»Was wahr ist, bedarf keinerlei Schnörkel oder Umschreibungen«, unterbrach sie Hildegard. »Schlichtheit ist und bleibt das prächtigste aller Kleider.«
Doch der Einwurf aus zwei so unterschiedlichen Mündern schien sie nachdenklich gemacht zu haben, denn sie nahm noch einmal Volmars Abschrift zur Hand und las sie stirnrunzelnd durch.
»Alles bleibt, wie es ist.« Sie ließ das Pergament sinken. »Allerdings werde ich einen Zusatz anfügen, der dem Kaiser zeigen soll, wie sehr uns sein Heil und seine Zukunft am Herzen liegen.«
Sie wandte sich an Schwester Lucilla und begann laut zu diktieren: »Schreib!«
O Diener Gottes, möge der heilige Geist Dich belehren, dass Du gemäß Seiner Gerechtigteit lebst und richtest. Wenn Du das getan, wirst Du von Deinen Feinden
niemals überwunden werden, wie auch David niemals überwunden werden tonnte, weil er all seine Gerichte in Gottesfurcht vollzog.
Und wisse, dass ich Gott aus ganzem herzen bitten werde, Er möge Dich trösten durch einen Ihm wohlgefälligen Erben und wunderbar an Dir Seine Barmherzigteit erweisen, damit Du durch ein gutes und gerechtes Leben in dieser Beitlichteit verdienst, nach dem Iod von Ihm hinübergeführt zu werden in die Ewigen Freuden.
»Beziehst du dich auf jenes spezielle Schreiben, das die Kaiserin durch ihre engste Vertraute an uns geschickt hat?«, fragte Schwester Hedwig, als die anderen schon auf dem Weg zur Messe waren. »Hat dir Eva mit ihrem Wissen bei der Beantwortung ein wenig helfen können?«
»Beatrix von Burgund wurde mit dem Kaiser vermählt, als sie noch ein halbes Kind war«, erwiderte die Magistra. »Es spricht für ihn, dass er ihr in der Frage der Nachkommenschaft zunächst Zeit gelassen hat. Andere Herrscher hätten sich in gleicher Lage gewiss weniger rücksichtsvoll verhalten. Sie muss sich keine
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