Die Prophetin vom Rhein
Speiseplan gestanden, weil ihr Vater als Graf das Jagdrecht in den Ortenburger Wäldern besaß. Allerdings wusste Theresa nicht genau, wie man all diese Tiere zubereitete, damit es auch halbwegs schmeckte, deshalb ging sie unschlüssig weiter.
Butter, Käse - und dort drüben begann der Fleischmarkt, wo es Innereien, Schinken, Speck und Schmalz zu kaufen gab. Alles war so weitläufig hier, dass der Trierer Markt ihr dagegen winzig erschien. Es wimmelte von Menschen, und plötzlich wurde ihr bewusst, in welch große Stadt sie gekommen war. Die vielfältigen Eindrücke und Gerüche verwirrten sie zusehends, und ihr Korb war noch immer gähnend leer.
»Salm!«, hörte sie plötzlich einen Händler aus voller Kehle schreien. »Frischer Salm und grüne Heringe - beides so günstig wie nie zuvor!«
Die laute Stimme zog Theresa an, und der Mann grinste verschmitzt, als sie langsam näher kam. Jetzt trennte sie nur ein kleines Stück von seinem Stand, wo eine Mutter mit zwei lebhaften Kindern wartete, die sich gegenseitig herumschubsten, sowie eine magere Frau, die beim Feilschen heftig mit beiden Händen gestikulierte. Als sie empört nach Luft schnappte, weil der Fischhändler mit seinem Preis offenbar
nicht weiter heruntergehen wollte, wandte sie Theresa ihr scharfes Profil zu.
Magota! Der Schreck lähmte Theresa für einen Augenblick. Dann trat sie schnell ein paar Schritte zurück.
Magota kaufte den Fisch dennoch und schien mit ihren Einkäufen am Ende, denn sie verließ zügigen Schritts den Markt. Theresa konnte nicht anders, als ihr zu folgen, hielt jedoch einigen Abstand. Sie kamen an einer Kirche vorbei, an Läden und Werkstätten, auch an der eines Sarwürkers, sodass Theresa augenblicklich Gero wieder in den Sinn kam. Ein Gedanke, den sie lange Zeit bewusst vermieden hatte.
Wie enttäuscht er damals gewesen war, als sie sich für Willem und ein Leben mit diesem Mann entschieden hatte, nachdem er ihnen so mutig zur Freiheit verholfen hatte! Womöglich hatte sie damit ihren kleinen Bruder für immer verloren.
Für ein paar Augenblicke war sie offenbar zu sehr in ihre schmerzvollen Erinnerungen vertieft gewesen, denn als sie nun aufschaute, war Magota verschwunden. Theresa blieb vor einem stattlichen zweistöckigen Haus stehen, dessen schwere Eichentür leicht angelehnt war.
Ob Magota hier wohnte?
Auf die Antwort dieser Frage musste sie nicht lange warten. Plötzlich fiel ihr auch wieder ein, woher sie Marleins Worte von der Mildtätigkeit und Barmherzigkeit Fremden gegenüber kannte, die sie so sehr beunruhigt hatten. Warum war sie nicht auf der Stelle misstrauisch geworden? Die Krankheit und der innigliche Wunsch, alles möge sich doch noch zum Guten fügen, hatten sie offenbar geblendet. Ähnlich einer Maus, die saftigen Speck wittert und darüber jede Wachsamkeit vergisst, war sie direkt in die Falle gerannt.
»Willkommen, Schwester in Gott!«, sagte Adrian van Gent mit verzerrtem Lächeln und trat zur Seite, um ihr den Weg ins Haus freizumachen. »Der verlorene Sohn hat bereits den Weg zurück zum gütigen Vater gefunden. Und nun bist endlich auch du zu uns gekommen! Alle Wege führen stets zu dem Einen.«
RUPERTSBERG - FEBRUAR 1163
Die erste Gestalt sprach: Ich bin die Liebe - caritas -, bin die herrlichteit des Lebendigen Gottes. Die Weisheit hat in mir ihr Wert gewirtt, und die Demut, die im lebendigen Quell verwurzelt ist, ist meine Gehilfin; mit ihr ist der Friede verbunden. Ich habe ja den Menschen entworfen, der in Mir gleich einem Schatten verwurzelt war, wie man den Schatten eines jeden Dinges im Wasser erblictt. Daher bin Ich auch der lebende Quell, weil alles, was geschaffen ist, wie ein Schatten in Mir war. Nach diesem Schatten ist der Mensch mit Wasser und Feuer gebildet, wie auch Ich Feuer und lebendiges Wasser bin. Deshalb hat der Mensch in seiner Seele die Fähigteit, alles zu ordnen, wie er will.
Alle im Scriptorium lauschten andächtig. Volmar und die frommen Schwestern schätzten und liebten die Visionen der Prophetin vom Rhein, doch was das Lebendige Licht ihr als Letztes eingegeben hatte, übertraf alles Vorherige.
Plötzlich schien vergessen, was während der vergangenen Monate den Alltag im Kloster so hart und schwierig gemacht hatte: die eisige Faust des schneereichen Winters,
der viele der Schwestern krank und schwach hatte werden lassen, die ständige Sorge, wie lange der neue Erzbischof von Mainz in der Gnade des Kaisers bestehen konnte und was im Fall seines
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