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Die Prophetin vom Rhein

Titel: Die Prophetin vom Rhein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Sturzes aus ihrem Konvent werden würde, die schier endlose Schlange Hungriger, die aus Bingen den Weg über die Drususbrücke nahmen und an die Klosterpforten pochten, um ein paar Essensreste geschenkt zu bekommen, die die Nonnen selbst kaum entbehren konnten.
    »Lies weiter, Volmar!«, rief Benigna beseelt. »Niemals haben meine Ohren Schöneres vernommen.«
    Der Mönch strich liebevoll über seine Abschrift, und plötzlich lag ein stolzer Ausdruck auf seinen faltigen Zügen.
    »Ich habe den besten Buchmaler weit und breit in Kenntnis gesetzt, denn die Visionen der hochwürdigen Mutter sollen aufs Trefflichste in Bilder umgesetzt werden. Meister Wolframs Antwort steht noch aus, doch ich bin sicher, er wird sich unserem Ersuchen nicht verschließen können.«
    Er räusperte sich ausführlich, dann fuhr er fort.
     
    In mir, der Liebe, hat sich alles gespiegelt. Mein Glanz zeigt die Gestaltung der Dinge, wie der Schatten die Gestalt anzeigt. Und in der Demut, die meine Gehilfin ist, ging auf Unordnung Gottes die Schöpfung empor. In derselben Demut hat Gott sich zu mir hinabgeneigt, um die troctenen Blätter, die abgefallen sind, in der Glüctseligteit emporzuheben, in der Er alles tun tann, was Er will. Weil Er jene aus Erde geformt hatte, hat Er sie daher auch nach dem Fall erlöst.
    Denn der Mensch ist volltommen das Gebilde Gottes. Er blictt auf zum himmel und tritt auf die Erde, indem
er sie beherrscht; er befiehlt allen Geschöpfen, weil er durch die Seele zur höhe des himmels schaut. Deshalb ist er durch sie auch himmlisch; durch seinen sichtbaren Leib aber ist er irdisch. Ulles, was Gott gewirtt hat, hat Er in Liebe, in Demut und in Frieden vollendet, damit auch der Mensch die Liebe hochschätzt, nach der die Demut strebt und Frieden hält, um nah bei Gott zu sein.
     
     
    Schwester Lucilla begann vor Rührung zu weinen, obwohl sie selbst es gewesen war, die diese Worte erstmals aus Hildegards geheimer Sprache, die bisher nur Richardis hatte übersetzen können, in reines, fehlerfreies Latein übertragen hatte.
    »Als ob der Allmächtige direkt zu einem spräche, hochwürdige Mutter«, rief sie. »Wie stolz und glücklich ich bin, dir bei diesem großen Werk dienen zu dürfen! Weißt du schon, welchen Titel es tragen soll?«
    »Dazu muss es erst einmal fertig werden, und das wird noch dauern«, erwiderte die Magistra, »denn nach meinem Dafürhalten bin ich mit diesem Visionszyklus erst am Anfang. Wer weiß, was noch alles kommen wird! Ich bin nur die demütige Magd, die die Worte des Herrn empfängt. Doch wenn du mich schon so fragst - ja, ich habe tatsächlich bereits einen Titel im Sinn: ›Liber divinorum operum - Das Buch der Gotteswerke‹.«
    Auch Benigna schien äußerst bewegt, zudem stand ihr die Sorge über den schlechten gesundheitlichen Zustand der Magistra ins Gesicht geschrieben.
    »Du trinkst doch regelmäßig meinen Herzwein?«, rief sie. »Und nimmst die kleinen Kügelchen ein, die ich zu deiner Stärkung geformt habe? Alle darin enthaltenen Wirkstoffe einzeln auszuführen, wäre jetzt zu langwierig. Aber
du kannst dich darauf verlassen: Ich habe das Beste vom Besten zusammengestellt, vor allem, um deinem armen malträtierten Kopf Linderung zu verschaffen.«
    Schwere Migräneschübe, begleitet von starker Übelkeit, hatten Hildegard schon seit Kindertagen zugesetzt; doch die Anfälle nahmen in letzter Zeit an Häufigkeit und Intensität noch zu.
    »Offenbar der Preis, den ich für die Botschaften des Lebendigen Lichts zu entrichten habe.« Die Magistra versuchte ein kleines Lächeln, dabei war sie so blass und schmal wie selten zuvor. »Ich strecke meine Hände nach Gott aus, um wie eine Feder, die ohne Schwerkraft im Wind treibt, von ihm getragen zu werden.«
    »Eine Feder, die deutlich an Gewicht zulegen sollte, wenn sie die Strapazen der nächsten Zeit heil überstehen will.« Das kam von Schwester Hedwig, die wieder einmal ihre Zunge nicht länger im Zaum halten konnte. »Mit deinen Visionen, geliebte Mutter, beschenkst du uns alle reich. Doch wenn du jetzt auch noch zum Kaiser in die Ingelheimer Pfalz reiten willst, um die Zukunft unseres Klosters zu sichern, solltest du in stabilerer körperlicher Verfassung sein.«
    »Danach fragt das Feuer nicht, das ich vom Himmel empfange. Es durchdringt mein Gehirn und setzt mein Herz wie eine Flamme in Brand. Und wisst ihr, was das Seltsame daran ist?« Auf einmal schien Hildegards Gesicht faltenlos, und die hellen Augen blitzten übermütig.

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