Die Prophetin vom Rhein
Meistens fallen die Haare ohnehin noch einmal aus, und was dann nachwächst, weiß der Allmächtige allein. Bedenken wären früher angebracht gewesen. Jetzt wirst du erst einmal anständig kreißen!«
Offenbar waren Theresas ermahnende Worte auf fruchtbaren Boden gefallen, denn die Gebärende schwieg und schien sich nun ganz auf die Vorgänge in ihrem Körper zu konzentrieren. Nach einiger Zeit setzten die Übergangswehen ein, die den Muttermund ganz öffneten. Neslin erhob sich vom Bett und kauerte sich breitbeinig auf den Boden, wozu Theresa sie ermutigt hatte, weil sie wusste, dass es dann oft leichter ging.
Während der Presswehen stieß Neslin markerschütternde Schreie aus. Bald war bereits der Kopf zu sehen. Eine weitere Wehe - die Schultern. Dann rutschte das neue Menschlein zwischen ihren Beinen heraus.
Theresa klemmte die Nabelschnur ab und verband die Nabelenden mit einem fettgetränkten Stück Leinen. Danach rubbelte sie das Kind kräftig ab. Mit einem lauten Schrei begrüßte das Neugeborene das Leben.
»Und seine Haare, sie sind doch nicht rot?«, rief Neslin, während sich die Nachgeburt ankündigte.
»Willst du nicht zuerst wissen, was du bekommen hast?«, fragte Theresa zurück. »Ein wunderschönes kleines Mädchen - mit einem Wust dunkler Locken.«
Die Dankesbezeugungen der Mutter wollten kein Ende nehmen, als hätte es einzig und allein an Theresas Geschick gelegen, dass sie keinen Rotschopf geboren hatte. Sie bestand darauf, dass der Gewandschneider die Wehmutter großzügig entlohnte, und verlor offenbar keine Zeit, ihre Nachbarinnen zu unterrichten, denn schon wenige Tage später wurde Theresa erneut zu einer Geburt gerufen.
Willem zog unwillig die Brauen hoch, als sie ihren Korb nahm und zur Tür ging.
»Hältst du das wirklich für klug?«, fragte er.
»Die guten Christen verdammen Zeugung und Geburt. Ich nicht«, erwiderte sie ruhig. »Du liebst eine Wehmutter, so nennt man die Frauen, die Leben schenken. Oder tust du das etwa gar nicht mehr?«
»Wie kannst du nur so reden!«, fuhr er auf. »Ich möchte nur nicht, dass du dich in Gefahr begibst. Wäre es nicht besser, lieber unerkannt zu bleiben …«
»Das muss man nur, wenn man etwas auf dem Kerbholz hat. Warte nicht auf mich! Es kann spät werden.«
Atemlos, weil sie schnell gelaufen war, kam sie bei der Gebärenden an. Die Frau hieß Jonata und war jung und schmal, hatte erschrockene Augen und ein fleckiges, unnatürlich aufgetriebenes Gesicht. Immer wieder krümmte sie sich vor Schmerzen und umklammerte dabei angstvoll ihren Bauch.
»Wie lange geht das schon so?«, fragte Theresa, während sie sie vorsichtig abtastete.
»Seit den frühen Morgenstunden. Zwischendrin war es so schlimm, dass ich dachte, ich muss sterben.«
»Dein Erstes?« Was sie da vorfand, gefiel ihr ganz und
gar nicht. Der Bauch war selbst für eine so magere Frau viel zu klein, der Muttermund trotz der langen Zeit der Wehen noch zu wenig geöffnet.
»Ich hab schon ein Mädchen mit fast drei Jahren. Jetzt wartet mein Mann voller Ungeduld auf den Sohn, der einmal seine Schmiede übernehmen soll. Er wird doch sicherlich gesund sein? Du musst alles tun, damit er gesund ist!«
Nachdenklich wiegte Theresa ihren Kopf. »Wann hat das Kind sich zum letzten Mal bewegt?«, fragte sie.
Die Frau begann auf der Stelle zu weinen.
»Antworte mir, Jonata! So genau wie möglich. Ich muss das wissen.«
»Vor einigen Tagen«, schluchzte sie. »Irgendwann. Ich weiß es nicht mehr so genau. Seitdem ist es ganz ruhig. Es schläft bestimmt, weil es doch Kraft braucht, um zur Welt zu kommen.«
»Wann war dein letztes Geblüt?«
Verzweifeltes Schulterzucken. »Vielleicht um Allerheiligen …« Jonata war vor Schluchzen kaum noch zu verstehen.
Gerade mal sechs Monate, keinerlei Kindsbewegungen seit Tagen und dann auch noch diese schmerzhaften Wehen - das Kind musste so schnell wie möglich aus dem Bauch der Mutter!
In solchen Fällen hatte Meline Schlangenknöterich empfohlen, an dem die Gebärende riechen sollte, doch Theresa hatte diese Pflanze leider nicht zur Hand. Stattdessen verabreichte sie Jonata gestoßenen Salbei und legte einen warmen Umschlag mit Beifuss auf ihren Leib. Als die Wehen schneller aufeinanderfolgten, aber noch immer sehr schmerzhaft blieben, versuchte Theresa es mit Evas Spezialrezept: Myrrhe in Wein gelöst, gemischt mit Honig und Öl.
Immer wieder streckte der Kindsvater seinen struppigen Kopf in die Gebärstube, und jedes Mal schob Theresa
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