Die Prophetin vom Rhein
entkommen!«
Unwillkürlich versuchte Theresa rückwärts zu entweichen, doch die nächste Häuserwand war nicht weit. Sie war eingekesselt, jede Flucht schien unmöglich. Die enge Haube war ihr plötzlich unerträglich. Mit einem Ruck riss sie sie herunter.
»Lass mich gehen, Adrian!« Ihre Stimme zitterte. »Du hast gewonnen. Ich verlasse die Stadt - ohne Willem.«
»Du wirst nirgendwo hingehen!«, zischte er. »Und niemandem etwas erzählen, dafür werde ich sorgen.« Hasserfüllt starrte er auf ihren Bauch. »Du hast das Leben meines Neffen zerstört. Ohne dich hätte er längst meine Nachfolge …«
Ein Schrei ließ ihn zusammenfahren.
Freimut hatte mit seinem Schwert eine Bresche geschlagen. Mit ein paar Schritten war er bei Theresa und baute sich schützend vor ihr auf. Adrians Männer schienen unentschlossen, was sie tun sollten, doch er erteilte weiterhin seine Befehle.
»Worauf wartet ihr noch? Wir sind doch in der Übermacht - schlagt ihm das Schwert aus der Hand!«
Der Erste, der es zaghaft versuchte, bekam einen Hieb in den Arm. Den Nächsten traf das Schwert ins Bein.
Freimut schien ganz ruhig dabei, als habe er alle Zeit der Welt, die Angreifer abzuwehren.
»Feiglinge!«, schrie Adrian und stürzte sich nun selbst auf den Ritter, der ihn freilich mit seinem gezückten Schwert in Schach hielt. »Wieso hilft mir denn keiner?«
Verzweifelt schaute er sich um. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er den Trupp der Stadtbüttel erkannte, der sich ihnen näherte. In ihrer Mitte führten sie zwei Gefesselte: Marlein und Willem, sein Rücken war gebeugt, sein Gesicht aschfahl wie das eines alten, gebrochenen Mannes.
»Willem«, flüsterte Adrian. »Mein Junge! Was haben sie mit dir gemacht?«
Theresa begann zu weinen.
»Er hat sich nicht einmal gewehrt«, rief der Anführer. »Und wenn ihr schlau seid, dann lasst ihr es auch bleiben.«
Die beiden Verletzten machten keinerlei Anstalten zu fliehen, und auch die zwei anderen Männer ließen sich ohne Widerstand die Fesseln anlegen.
Adrian bebte am ganzen Körper vor Wut.
»So stich doch zu!«, schrie er Freimut an. »Diese Hure hat offenbar auch dir bereits ihr Gift eingeträufelt. Aber ich fürchte mich nicht - der gute Gott wird uns alle retten.«
»Deine Ketzerreden werden sie dir schnell austreiben!« Vier Büttel stürzten sich gleichzeitig auf Adrian, rissen ihm die Arme nach hinten und banden ihn mit starken Stricken.
Jetzt erst entspannte sich Freimuts Gesicht.
»Und was ist mit dem Weib?«, rief einer der Büttel. »Gehört sie auch zu dieser Ketzerbrut?«
»Siehst du nicht meinen Bauch?« Theresas Gesicht war nass von Tränen, ihre Stimme aber klang gefasst. »Die guten Christen verbieten Ehe und Schwangerschaft. Keiner
von ihnen liegt Weibern bei. Ich kann also gar nicht zu ihnen gehören!«
»Sie lügt«, schrie Adrian. »Glaubt ihr kein Wort! In meinem Haus hat sie gelebt, meinen Neffen hat sie …« Ein Knebel brachte ihn zum Schweigen.
»Wir sollten so schnell wie möglich hier weg«, sagte Freimut halblaut zu Theresa, die Willem mit verzweifelter Miene anstarrte.
»Ich kann ihn doch jetzt nicht so zurücklassen«, flüsterte sie. »Unser Kind …«
»Du kannst ihm nicht mehr helfen«, sagte Freimut mit einer wilden, kühnen Hoffnung im Herzen. »Vielleicht später. Auf andere Weise.«
KÖLN - JUNI 1163
Es war der schwerste Gang, der Theresa jemals im Leben bevorgestanden hatte, und hätte sie im gemeinsamen Gebet mit der Magistra nicht zuvor Kraft schöpfen können, sie hätte ihn vermutlich nicht zu Ende gebracht. Lange hatten sie miteinander geredet, schonungslos, in aller Offenheit, dann hatte Hildegard ihr vergeben.
Doch jetzt war die Prophetin vom Rhein fort, aufgebrochen zu den weiteren Stationen ihrer Predigtreise - und Theresa war ganz auf sich gestellt. Nicht einmal Gero wollte sie als Begleiter haben, und auch Freimuts angebotene Unterstützung hatte sie abgelehnt.
Der Weg zum Gereonsturm schien endlos. Immer wieder meinte Theresa unterwegs neugierige Blicke auf sich zu spüren, doch sie wusste, dass dieses Gefühl lediglich ihrer Einbildung entsprang.
Der Aufruhr in Köln war vorüber, die Toten waren begraben. Schuldige ließen sich keine dingfest machen. Wer an den Exzessen teilgehabt hatte, legte die Beichte ab und schwieg. Gero hatte vor den versammelten Domherren eine ausführliche Erklärung über die Umstände des Mordes an Erzbischof Arnold von Selenhofen abgegeben und seine Aussage mit einem Eid
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