Die Prophetin vom Rhein
…«
»Widerrufe!«, unterbrach sie ihn. »Ich weiß doch, dass du gezweifelt hast, und könnte es sogar beeiden. Sag dich los von den guten Christen, und du wirst leben, Willem! Draußen scheint die Sonne, und die Vögel singen. Willst du das niemals wieder erleben?«
»Dann wirst du mit mir gehen, in dieses schöne neue Leben, Theresa, an meiner Seite?« Seine rätselhaften Augen, die ihr die Welt bedeutet hatten, schauten sie fragend an.
Die rettende Lüge lag ihr bereits auf der Zunge, doch um des Kindes willen, das ihren Leib bald verlassen sollte, brachte Theresa sie nicht über die Lippen. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich werde endlich nach Hause gehen, zurück an den Ort, wo ich geboren und aufgewachsen bin und wo auch das Kleine geborgen zur Welt kommen kann. Du musst es um deinetwillen tun, Willem! Widerrufe! Nur so gibt es einen neuen Anfang für dich, und du wirst …«
»Schweig!«, fuhr er auf. »Du lügst, denn du hast mich längst verlassen. Adrian hatte recht. Du hast mich niemals geliebt. Das weiß ich jetzt.«
»Löse dich von ihm, Willem, sonst droht dir das Feuer!«
»Geh!« Seine Stimme brach. »Der Tod ist nichts als ein Durchgang. So hab ich es von Adrian gelernt, und daran glaube ich bis heute. Das reinigende Feuer wird mich erlösen, diesen schmutzigen, stinkenden Körper vernichten. Dann ist meine Seele frei, und ich bin endlich bei Gott.«
Tränenüberströmt ließ sie ihn zurück.
Der Henker musste sie mit ganzer Kraft auf der Leiter nach oben hieven, sonst hätte sie den Aufstieg nicht geschafft. Draußen taumelte sie ins Helle, geblendet vom Sonnenlicht, und sog die frische, saubere Luft tief in sich ein, als könnte sie sie trinken.
Das Wiehern eines Pferdes drang an ihr Ohr. Als sie den Kopf wandte, sah sie Freimut von Lenzburg neben dem Tier stehen, der sie besorgt musterte.
»An solch einem Tag solltest du nicht allein sein, Theresa«, sagte er. »Steig auf! Ich bringe dich nach Hause.«
Ein paar Tage später hielt der Schinderkarren, auf dem schon einige Gefangene versammelt waren, vor dem Gereonsturm. Hug und sein Gehilfe packten Willem und warfen ihn wie ein Bündel auf den Wagen.
Adrian van Gent, im Büßerhemd, reckte seinen mageren Hals.
»Steh auf wie ein Mann, Willem, und juble!«, rief er. »Die elende Gefangenschaft des Fleisches ist bald zu Ende. Die guten Christen gehen aufrecht in ein besseres Leben.«
Willem rührte sich nicht.
»Er wird nichts mehr spüren«, versicherte der Henker, als Freimut wie verabredet zu ihm trat und ihm einen Lederbeutel zusteckte, den Hug eilig unter seinem roten Kittel verschwinden ließ. »Auf meine Hände ist Verlass. Wenn das große Feuer auf dem Judenbüchel an seinen Zehen leckt, ist er längst tot. Die anderen dort droben sind viel schlechter dran. Und jetzt lasst mich vorbei! Meine Arbeit muss sorgfältig getan werden.«
Langsam ging Freimut zurück zu seinem Pferd. »Es gibt keine stärkere Kraft als die Liebe«, hatte die Magistra zum Abschied gesagt und ihn mit dem Zeichen des Kreuzes gesegnet. »Wenn Ihr ebenso mutig wie klug seid, bleibt Ihr Theresa zunächst ein treu sorgender, zugewandter Freund, der nichts verlangt und alles gewährt. Vergessen, was geschehen ist, kann sie wohl nie, doch das Erlebte wird sich nach und nach setzen und eines Tages zu fruchtbarem Humus werden, auf dem wie in einem Garten Frisches sprießen und schließlich reifen kann. Das Kind wird ihr dabei helfen, weil sie durch seine Augen die Welt neu erlebt - und wieder zu lieben lernt.«
Die Liebe ist die stärkste Kraft auf Erden, dachte Freimut, als er aufstieg. Wie recht sie doch hat, die Prophetin vom Rhein!
Epilog
ORTENBURG - HERBST 1163
Der Tod war sein Freund geworden, zumindest für eine lange Zeit, denn jenes Gesicht, das er vor Jahren nach der Schlacht für das des Todes gehalten hatte, gehörte dem Mann, der sein Lebensretter gewesen war. Nasrin hatte ihn unter den Leichen hervorgezogen, geborgen, gewaschen und verbunden, mit Arzneien versorgt und mit Speisen gefüttert, die er nie zuvor gekostet hatte.
Nach und nach verheilten die Wunden; er bekam neue Kleidung und musste sich wie ein ungelenkes Kind das Gehen wieder erobern. Als seine Genesung weitere Fortschritte machte, begann er die fremde Sprache zu lernen und zeigte sich erstaunlich anstellig dabei. Vielleicht, weil immer öfter Safira scheinbar zufällig vorbeikam, Nasrins heranwachsende Tochter, die fröhlich zu glucksen begann, wenn er die Worte wieder einmal
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