Die Prophetin vom Rhein
Frau, 1098 (wohl) in Bermersheim in der Pfalz geboren und 1179 als Einundachtzigjährige in ihrem Kloster auf dem Rupertsberg gestorben, hat in den letzten Jahrzehnten eine unvorstellbare Popularität gewonnen. »Die berühmteste Frau des Mittelalters« ist geradezu zur Kultfigur geworden. Unzählige wollen von ihrem Ruhm profitieren. Es gibt »Hildegard-Medizin«, »Fasten nach Hildegard«, »Hildegard-Kochbücher« und »Hildegard-Apotheken«; sogar die CD »Vision« mit Hildegard-Musik schaffte es in den Neunzigerjahren bis an die Spitze der amerikanischen Charts.
Allerdings hat sie selbst niemals im Leben ein Rezept für Dinkelbrot verfasst, und von strengem Fasten hielt sie denkbar wenig. Ob ihre Kompositionen zu ihren Lebzeiten jemals aufgeführt wurden, bleibt ungewiss. Und ihre medizinischen Anweisungen sind Manuskripten entnommen, die erst Jahrhunderte nach ihrem Tod aufgezeichnet wurden. Welcher Leser hingegen kennt ihre drei Visionsbücher und den umfangreichen Briefwechsel, den sie mit den Mächtigen ihrer Zeit mutig und unerschütterlich führte, wirklich?
Wer also war diese Hildegard von Bingen?
Hildegard wurde 1098 als zehntes Kind der Edelfreien Hildebert und Mechthild von Bermersheim bei Alzey geboren. Als Achtjährige gaben sie ihre Eltern - sozusagen als den »Zehnten an Gott« - in die Obhut der Adeligen Jutta von Sponheim, die später als Reklusin im Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg lebte (einem Männerkloster). Zusammen mit zwei anderen Mädchen unterstanden sie dann als Inklusinnen (wörtlich »Eingeschlossene«) dem Kloster, folgten in ihrem Tagesablauf dem der Mönche und verrichteten wie diese die Stundengebete. Damals galten die Benediktinerklöster als Hochburgen von Wissenschaft und Kunst, und für Mädchen war dies die einzige Möglichkeit, daran teilzuhaben. Jutta führte Hildegard in die Texte der benediktinischen Regeln und der Heiligen Schrift ein, lehrte sie Psalmengesang sowie Liturgie und brachte ihr (wenngleich offenbar ein wenig unsystematisch) Latein bei.
Mit vierzehn Jahren entschied sich Hildegard für das klösterliche Leben, legte das monastische Gelübde nach der Regel des heiligen Benedikt ab und empfing den Schleier im Nonnenkonvent des Disibodenberges. Nach Juttas Tod wurde sie 1136 zur Magistra gewählt. Visionen, die sie seit ihrem dritten Lebensjahr hatte, versuchte sie erfolglos zu verdrängen, bis ihr 1141 eine Stimme befahl, diese aufzuschreiben. Als sie diesem Befehl nicht folgte, erkrankte sie schwer. Sie wandte sich um Rat an Bernhard von Clairvaux, der ihr in einem sehr diplomatisch gehaltenen Schreiben riet, das zu tun, was die Stimme ihr befehle. Später hat sie diesen Brief »überarbeiten lassen«, man könnte auch sagen: gefälscht, und nun enthält er plötzlich sehr viel mehr Lob und Anerkennung für ihre Gaben.
Wahrscheinlich ist es auch Bernhards Einfluss zu verdanken, dass Papst Eugen III. bei der Synode von Trier
1147 aus Hildegards Schriften vortrug und sie (eine Frau!) damit im Rahmen der Kirche gesellschaftsfähig machte.
Hildegard und ihr Ruf wurden zum Magnet für adelige Töchter von nah und fern, und bald waren die Räumlichkeiten des Disibodenberges erschöpft. In einer Vision, und damit undiskutierbar, wurde Hildegard der Rupertsberg bei Bingen am Rhein (nah an allen großen Fernstraßen) als neuer heiliger Ort offenbart - ein Ziel, das sie von nun an mit eisernem Willen verfolgte. Die Mönche, allen voran Abt Kuno, erhoben Protest, wollten weder die publikumswirksame Seherin noch die kostenlose Arbeitskraft der Nonnen verlieren. Doch Hildegard ließ sich nicht abhalten, kämpfte und warb, bis sie schließlich um 1150 mit circa zwanzig Nonnen auf den Rupertsberg umsiedelte, wo erst der Grund urbar gemacht werden musste, ehe schließlich Kloster und Kirche gebaut werden konnten. Es folgte eine schwierige, entbehrungsreiche Zeit, in der einige der adeligen Schwestern sich enttäuscht abwandten und in andere Klöster strebten.
Das alles konnte Hildegard verkraften - was ihr aber am meisten zusetzte und eine Wunde schlug, die niemals mehr heilen sollte, war um 1151 der Verlust ihrer Lieblingsnonne Richardis von Stade. Diese blitzgescheite junge Frau von edlem Geblüt, verwandt mit dem Hochadel halb Europas, war Hildegards große Liebe; sie unterstützte sie maßgeblich bei ihren ersten Visionsaufzeichnungen. Als Richardis, offenbar angestiftet von ihrer gleichnamigen Mutter, die anfangs eine der großen Gönnerinnen Hildegards
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