Die Prophetin vom Rhein
war, nun ihrerseits das Amt einer Magistra in einem Konvent bei Bassum nahe Bremen anstrebte und dieses dank der Unterstützung ihres Bruders Hartwig von Stade, des Erzbischofs vom Bremen, auch tatsächlich erhielt, wollte Hildegards Schmerz nicht mehr enden. Himmel und Hölle setzte sie
in Bewegung, schrieb an Erzbischöfe, den Kaiser und sogar den Papst - und musste sich doch zähneknirschend und nach wie vor uneinsichtig fügen.
Selbst wenn Richardis gewollt hätte, sie hätte nicht mehr zurückkommen können. Sie war knapp dreißig, als sie am 27. Oktober 1152 in Bassum vermutlich an Brustkrebs starb.
Hildegard fiel in ein tiefes, tiefes Loch - und genau hier setzt mein Roman ein …
Doch noch einmal zurück zur Zeit Hildegards, von vielen pauschal »Hochmittelalter« benannt. Welchen Wendepunkt gerade das 12. Jahrhundert für die europäische Geschichte darstellte, hat sich offenbar noch nicht gründlich genug in allen Köpfen eingenistet. Kaum ein Bereich, in dem nicht bahnbrechende Veränderungen stattgefunden hätten, die sich alle gegenseitig beeinflussten. Es wurde wärmer; die Bevölkerung wuchs beachtlich an, Bauern verwendeten neue, produktivere Techniken, Wälder wurden gerodet, neue Weinberge angelegt, zahlreiche Dörfer und Städte gegründet. In diesen Städten entwickelten sich eine Bürgerkultur und ein neues Wirtschaftsmodell, das von Wettbewerb und Geld geprägt war. Mit den Ministerialen wurden erstmals Unfreie zu einem neuen Stand, der dem Adel Konkurrenz zu machen begann.
Auch die Religion fing an sich zu verändern. Traditionelle Riten, kirchliche Institutionen, Autoritäten und Amtsträger wurden nicht länger fraglos akzeptiert. Der Ruf nach Reformen wurde unüberhörbar; eine neue Frömmigkeit brach sich Bahn, die sich vom bislang verehrten Herrschergott abwandte und im leidenden, Mensch gewordenen Christus ihr Heil für die Bürden des Diesseits suchte.
Als Konsequenz all dieser Veränderungen in Welt und Kirche erhielt der Einzelne mehr Freiheiten, mehr Verantwortung
und größere Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten. Auch Frauen bot sich nun die Möglichkeit, ihre religiösen Bedürfnisse vielfältig zu leben. Sie schlossen sich Wanderpredigern an, gingen als Eremitinnen in die Einsamkeit und drängten wie nie zuvor in die Klöster. Viele, sehr viele fanden allerdings auch ihren Halt in den ketzerischen Bewegungen jener Zeit, vor allem bei den Katharern, die sich selbst »gute Christen« nannten und ihre Religion »Kirche der Liebe«. Sie lehnten die Amtskirche ab und frönten einem strengen, leibfeindlichen Dualismus.
Prägend für diese Zeit war auch die heftige Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst, die einen neuen Höhepunkt erreichte. Beim ersten Kreuzzug waren beide noch im Kampf gegen die Ungläubigen vereint, denen man das Heilige Land mit dem Schwert gewaltsam entreißen wollte. Als der zweite Kreuzzug von 1147-1149 kläglich scheiterte, hinterließ er eine geschwächte, geschlagene Ritterschaft. Trotzdem erhob bald darauf allein Friedrich Barbarossa nacheinander drei Gegenpäpste: Die Zeit des Schismas hatte begonnen.
Aber auch seinen eigenen Noblen konnte der Kaiser nicht wirklich trauen - allen voran Heinrich dem Löwen, dem stolzen Herrscher über die Herzogtümer Bayern und Sachsen, der ihm später auf breiter Front den Gehorsam verweigern sollte. Dazu kam Friedrichs mühsamer Kampf gegen die Rebellion der oberitalienischen Städte, die den Kaiser - kaum anders als seinen Vor-vor-vorgänger Otto I. - regelrecht zu einem Kaisertum im Sattel zwangen: Kaum hatte Barbarossa einem Widersacher den Rücken gekehrt, stand schon der nächste gegen ihn auf.
Dichtung und Wahrheit
Die meisten der geschichtlichen Fakten in diesem Roman sind historisch belegt, wenngleich ich mir bei den Geschehnissen in Köln einige dichterische Freiheiten erlaubt habe. Von Unruhen ist nichts überliefert, doch habe ich die Predigt Hildegards im Wortlaut wiedergegeben. Einen Dompropst Dudo hat es zwar nicht gegeben, erwiesen ist aber die endlose Abwesenheit von Reinald von Dassel, der im Ganzen kaum mehr als fünfzehn Monate in Köln weilte und tatsächlich erst fünf Jahre nach der Wahl zum Erzbischof die Priesterweihe erhielt.
DIE PERSONEN
Reale Personen der Geschichte sind Hildegard von Bingen, Richardis von Stade, Kaiser Friedrich Barbarossa, seine Frau Beatrix sowie alle in der Erzählung vorkommenden Erzbischöfe. Auch der Mord an Arnold von Selenhofen ist historisch belegt.
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