Die Prophetin vom Rhein
Seit sie mit den Nonnen im Kloster lebte, betete sie es mehrmals täglich, doch dieses Mal war etwas anders.
»Wieso betet nur er allein?«, flüsterte sie.
Willems rechte Braue ging leicht nach oben, und seine Mundwinkel zuckten.
»Du musst nicht alles verstehen, Theresa«, sagte er. »Manchmal ist es sogar besser, nicht zu viele Fragen zu stellen. Komm, ich bring dich in ein anderes Zimmer!«
»Bleibt ihr jetzt für immer in Bingen?« Wenigstens diese Antwort war er ihr schuldig.
Er lächelte. »Wo denkst du hin! Kaufleute sind ständig
unterwegs, das bringt unser Beruf mit sich. Auch dieses Haus hier ist lediglich eine Zwischenstation, wenngleich schon seit einer Reihe von Jahren. Ab und zu halten wir uns auch in Mainz auf - allerdings nur wenige Wochen im Jahr.«
»Aber irgendwo müsst ihr doch zu Hause sein!«, stieß sie erregt hervor, weil sie spürte, wie er ihr mit jedem Wort mehr zu entgleiten drohte.
»Die Welt ist ein zu düsterer und sündiger Ort, um sich darin wirklich heimisch zu fühlen«, erwiderte Willem. »Unsere wahre Heimat wird eines Tages der Himmel sein. Die Heimat aller guten Christen.«
Wochenlang gingen seine seltsamen Worte Theresa nicht mehr aus dem Sinn und überdeckten nach und nach ihre ursprüngliche Wiedersehensfreude. Zunächst hatte sie Benigna fragen wollen, was sie wohl bedeuten könnten, doch nach einigem Grübeln ließ sie es schließlich lieber bleiben. In Gegenwart der Infirmarin den Namen Willem auszusprechen, ohne sich auf der Stelle zu verraten, erschien ihr unmöglich. So vertraute Theresa auch niemandem an, was sie sonst noch alles in Bingen erlebt hatte - weder das erregte Flüstern der beiden Frauen im Schuppen noch die schmerzvolle Begegnung mit Gero und auch nicht das stumme Gebet der Nonne mit dem Flamen.
Eines Tages hatte ein Fuhrwerk den Rupertsberg erklommen, um die bestellte Seide und die Borten abzuliefern. Seitdem war Magota mit einigen Schwestern dabei, Festkleider zu nähen. Darunter vorstellen konnte Theresa sich allerdings nichts Rechtes, waren die Kutten der Nonnen doch denkbar einfach und rau, und die Schwestern machten keinerlei Anstalten, sie vor der Zeit aufzuklären.
Als Johanni schon eine ganze Weile zurücklag, traf Abt Kuno im Kloster ein. Es gab weder ein üppiges Festessen, noch fiel der Empfang besonders überschwänglich aus. Der Abt tat, als bemerke er nichts davon, rief zunächst Bruder Volmar zu sich und besprach sich lange mit ihm im Kapitelsaal. Danach ließ er sich von der Magistra auf dem Gelände herumführen, mit arrogantem Gehabe, als sei er der Grundherr, für den die frommen Schwestern zu arbeiten hätten. Eingehend inspizierte er dabei auch den Stall, und dort erregte Theresas Weißer sein spezielles Interesse.
»Ich dachte eigentlich, ihr wäret schon ein ganzes Stück weiter«, lautete sein Kommentar, als Hildegard ihn zu einer Erfrischung ins Äbtissinnenhaus bat, die sie von Theresa auftischen ließ.
»Niemand weiß besser als du, weshalb«, lautete die knappe Antwort der Magistra. »Ein Wunder, wie wir das alles überhaupt bewerkstelligt haben!«
»Bei den unzähligen Schenkungen, die euch zuteilwurden? Man sagt, vor allem deine Familie habe euch mehr als großzügig unter die Arme gegriffen - und nicht nur sie.« Er nickte dem Mädchen zu. »Schenk ruhig noch nach!« Der süße Most, den er nahezu unverdünnt trank, schien ihm ausgezeichnet zu munden.
Theresa wartete auf ein Zeichen von Hildegard, um sich zu entfernen, doch es blieb aus. Legte die Magistra es darauf an, dass sie alles mit anhörte?
»So erscheint es mir nur als gerecht, euren Brüdern vom Disibodenberg etwas von all dem Überfluss hier abzutreten«, fuhr Kuno fort.
»Das verlangst du von uns?« Hildegards Hände zitterten. »Anstatt uns endlich zu erstatten, was uns vor Gott zusteht, erhebst du neuerliche Forderungen?«
Sein Lächeln war breiter geworden. »Lass uns die Sache logisch angehen! Wozu braucht ihr ein stattliches Pferd, wo das Kloster doch eure Heimat ist, die ihr ohnehin nicht verlassen dürft? Dieses Tier nebst Sattel und Zaumzeug nehme ich gleich heute mit. Ein Drittel eurer Weinlese könnt ihr dann zum Hauptkloster bringen lassen, sobald alles fertig gekeltert ist.« Er wirkte ausgesprochen zufrieden und ganz im Reinen mit sich selbst. »Für den Rest meiner Ansprüche muss ich erst die Bücher studieren. Lass mir eine Abschrift davon anfertigen. Euer Scriptorium soll ja Erstaunliches leisten, wie man hört.«
Theresa
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