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Die Prophetin vom Rhein

Titel: Die Prophetin vom Rhein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Schwestern Hildegards neue Kompositionen, Lieder voll schlichter Schönheit, die direkt ins Herz trafen. Im Mittelpunkt stand dabei die heilige Ursula mit ihrer Jungfrauenschar, und wenn Theresa verstohlen um sich schaute, so kam es ihr vor, als seien diese heiligen Märtyrerinnen heute leibhaftig auf dem Rupertsberg erschienen.
    Ihr Latein war noch immer zu lückenhaft, um die Strophen ganz zu verstehen, aber Benignas kluge Lektionen hatten doch gefruchtet, das merkte sie an jeder Zeile. Vielleicht war genau das der Grund, weshalb die Musik sie in einen halb entrückten Zustand versetzte. Theresa glaubte zu schweben, so friedlich und warm war es in ihr geworden. Frei fühlte sie sich, denn das ungewohnte Seidengewand war so leicht, dass es ihren erhitzten Körper wie eine zärtliche Liebkosung berührte. Draußen ging ein Herbstgewitter nieder, das die Bäume bog und sogar einige Äste brechen ließ, drinnen aber schwang die Musik sich zu frohlockenden Höhen auf, die alle ergriffen.
    Den klarsten Sopran von allen besaß Schwester Clementia, ein Gottesgeschenk, das seinesgleichen suchte, und ihr jubelndes Gebet zum himmlischen Bräutigam ließ keine der anderen unberührt, die ihr schließlich im Chor antworteten. Immer inbrünstiger wurde der Refrain, so sehnsuchtsvoll, dass es wie ein leidenschaftliches Rufen nach dem innigst Geliebten klang.
    Mit einem Mal stand Willems Bild wieder ganz deutlich vor Theresa. Schade, dass er sie nicht sehen konnte, festlich geschmückt wie eine Braut vor dem Altar! Dem Mädchen wurde heiß bei diesem Gedanken. Unauffällig lugte sie nach links und rechts, aus Angst, sich zu verraten, doch alle ringsumher sangen mit so strahlenden Gesichtern, dass ihre Befürchtungen rasch wieder zerstoben.

    Eine Einzige freilich hielt den Mund fest geschlossen, als befürchte sie, ihr könne nur ein einziger Ton entschlüpfen: Magota. Auch bei den nachfolgenden Gebeten, die ebenfalls aus Hildegards Feder stammten, blieb sie so stumm wie ein Karpfen im Teich.
     
    Die Seele ist wie der Wind, der über die räuter weht, und wie ein au, der auf die Gräser träufelt, und wie die Regenluft, die wachsen macht. Genauso ströme der Mensch sein Wohlwollen aus auf alle, die da Sehnsucht tragen …
     
    Längst hatte Theresa ihre anfängliche Vorsicht aufgegeben. Während ihr Herz die Worte trank, starrten ihre Augen ungeniert auf die große, knochige Frau, die nicht einmal in blendend weißer Seide sonderlich anziehend wirkte.
     
    Ein Wind sei er, indem er den Elenden hilft, ein au, indem er die Verlassenen tröstet, und Regenluft, indem er die Ermatteten aufrichtet und sie mit der Lehre erfüllt wie hungernde, indem er ihnen seine Seele hingibt.
     
    Magotas Mund blieb weiterhin eine dünne Linie. Erst als die Magistra das Vaterunser anstimmte und alle anderen lauthals einfielen, öffneten sich auch ihre Lippen, und nun betete sie hörbar mit. Allerdings vollzog sich dabei schon nach Kurzem eine erstaunliche Veränderung mit ihr. Der lange Körper begann zu zittern, die großen Hände fingen an, um sich zu schlagen, während das Lächeln auf dem Gesicht wie eingefroren wirkte. Immer heftiger wurden ihre
Bewegungen, immer wahlloser, als verlöre sie nach und nach jegliche Kontrolle über ihre Gliedmaßen. Schließlich trat weißlicher Schaum vor den Mund, die Augen verdrehten sich.
    Magota stürzte vornüber und rührte sich nicht mehr.
    Ein Aufschrei wie aus einer einzigen Kehle, dann schoben die Schwestern sich gegenseitig zur Seite, um sich über die Leblose zu beugen. Beherzt wies Benigna zwei der Nonnen an, Magota in das Krankengebäude zu tragen und dort auf ein Bett zu legen.
    »Lasst mich mit ihr allein!«, befahl sie. »Ich will versuchen, ihr zu helfen.«
    Die ganze Nacht wachte sie bei ihr, flößte ihr einen Tee aus Melisse und Johanniskraut ein, betete dazwischen immer wieder zur Himmlischen Jungfrau und atmete erst wieder auf, als Magotas Haut in den frühen Morgenstunden ihre fiebrige Hitze verlor und sich wieder kühl anfühlte. Als sie hinausgehen wollte, um frisches Wasser zu holen, damit sie die Genesende reinigen konnte, fand sie Theresa vor der Tür kauernd vor.
    »Was hat sie? Was ist mit ihr?«, fragte sie angstvoll. »Muss sie jetzt sterben?«
    Schwester Benigna zog die Schultern hoch. »Ich denke, sie ist wieder auf dem Weg der Besserung, zumindest äußerlich betrachtet. Eine richtige Krankheit konnte ich bisher nicht ausmachen«, sagte sie. »Mir scheint eher, als habe sich

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