Die Prophetin vom Rhein
Rupertsberg. Die Nonne ging so schnell, dass Theresa sich anstrengen musste mitzuhalten. Die Jüngere trug ein neues Paar Schuhe, das zwar aus einigermaßen weichem Leder gearbeitet war, an den Fersen aber eine wulstige Naht hatte, die schon bald unangenehm zu scheuern begann. Es war nicht weit bis zum Stadttor, und doch lief Theresa der Schweiß in Strömen herab, weil die Sonne schon viel Kraft besaß. Geredet hatten sie unterwegs kaum etwas. Zu deutlich spürte Theresa den Widerwillen der anderen, die ihre Gegenwart regelrecht zu stören schien.
»Reiß dich gefälligst zusammen!«, beendete Magota abrupt Theresas leises Stöhnen, als sie im Strom der Lastkarren und Menschen die Liebfrauengass erreicht hatten, wo heute Markttag war. »Ich hab mich wahrlich nicht danach gedrängt, dich aufgehalst zu bekommen. Benimmst
du dich jetzt daneben, war es heute zum ersten und letzten Mal.«
Theresa funkelte trotzig zurück, doch die Nonne bemerkte es nicht einmal. Zielstrebig näherte sie sich einem großen Steinhaus in der Enkersgasse, das dreistöckig in den blanken Himmel ragte. Dem Mädchen fiel auf, dass sie dabei immer aufgeregter wurde. Und weshalb schob sie vor der Tür auf einmal das grobe Holzkreuz, das bislang bei jedem Schritt auf ihrer mageren Brust gehüpft war, unter die raue Kukulle?
»Willst du lieber gleich zu deinem Bruder?«, fragte Magota plötzlich.
So leicht war Theresa nicht abzuschütteln! Jetzt wollte sie erst einmal wissen, was sich hinter dieser Tür verbarg.
»Später«, sagte sie. »Wieso klopfst du nicht endlich?«
Als ihnen nach einer Weile geöffnet wurde, glaubte Theresa ihren Augen nicht zu trauen: Willem!
Einen Augenblick war es Theresa, als fiele sie in tiefes, dunkles Wasser, das sie wirbelnd umschloss. Dann verschwand der Schwindel, und sie konnte wieder einigermaßen klar sehen.
Willem schien von ihrem Anblick dermaßen überrascht, dass er nach Worten rang. Viel Zeit dazu blieb ihm allerdings nicht, denn sein Onkel schob sich ungeduldig nach vorn.
Adrian van Gents Begrüßungslächeln erstarb jäh, als er Theresa erkannte.
»Gott schütze Euch, werter Bruder in Gott«, hörte sie Magota sagen. Dann beugte die Nonne sich zu Theresas Verblüffung vor und berührte Adrians Schultern kurz mit ihrem Gesicht.
Der wich zurück, als sei er zu nah an ein flackerndes Feuer geraten.
»Die Seide führt Euch zu mir, Schwester Magota?«, erwiderte er förmlich. »Die Magistra hat Euch bereits ankündigen lassen.«
Theresa konnte nur noch flach atmen. Sie hielt die Augen auf den Boden geheftet und glaubte trotzdem, am ganzen Körper Willems Blicke zu spüren.
Denk bloß nicht, dass ich Novizin geworden bin, wollte sie ihm zurufen. Ich trage dieses Kleid lediglich, weil meine Sachen von Sturm und Regen verdorben sind. Die Nonnen haben mir Obdach gewährt, doch eine von ihnen bin ich deshalb noch lange nicht.
Ihre Lippen freilich blieben stumm.
»So kommt doch bitte mit in unser Kontor!«, sagte Adrian. »Dort ist alles vorbereitet.«
Die Wände des so bezeichneten Zimmers waren holzgetäfelt, was Theresa noch nie zuvor gesehen hatte. Ein behaglicher Raum, der zudem gut und würzig roch. In der Mitte stand ein großer Kasten mit Beschlägen und Schmucknägeln, dessen Lade geöffnet war. Sonst gab es noch grob gezimmerte Holzbänke, ein Schreibpult mit einem Hocker und zwei kleinere Tische.
Willem hatte sich über die Lade gebeugt und einen Ballen herausgezogen, den er auf einem der Tische ein Stück aufrollte. Ein Sonnenstrahl, der durch das geöffnete Fenster fiel, machte das Weiß noch blendender.
»Allerfeinste Qualität«, sagte Willem. »Seide, so rein und kühl wie frisch gefallener Schnee. Greif ruhig auch einmal hin, Theresa! Es fühlt sich herrlich an, den Stoff anzufassen.«
Er hatte ihren Namen behalten! Wortlos folgte sie seiner Aufforderung.
»Hörst du dieses leise Knirschen? Das nennt man den Seidenschrei. Er allein bezeugt, dass die Ware echt ist.«
Magota schob sich vor und drängte das Mädchen fast grob zur Seite. Andächtig fuhren nun ihre rauen Hände über den schimmernden Stoff.
»Jetzt wird sie endlich zufrieden sein«, rief sie. »Daran wird sogar sie nichts auszusetzen haben. Habt Ihr denn auch die Borten beschaffen können, die sie unbedingt wollte?«
Ganz offensichtlich sprach sie von der Magistra. Aber wieso nannte sie nicht deren Namen oder Titel? Und aus welchem Grund lächelte die fromme Schwester vom Rupertsberg diesen grauhaarigen Mann aus
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