Die Prophetin vom Rhein
nutzte die vorübergehende Sprachlosigkeit der Magistra, um hinauszuschlüpfen. Natürlich lief sie als Erstes zum Weißen, drückte ihr heißes Gesicht in sein Fell und streichelte ihn.
»Jetzt wirst mir auch noch du weggenommen - das Einzige, was mir von zu Hause geblieben ist!«
Das Pferd schnaubte, als verstünde es ihren Kummer. Theresa entschloss sich, es zur Belohnung zu striegeln. Als sie sich nach der Bürste bückte, rutschte ihr das scharfe Gartenmesser aus dem Gürtel. Erst wollte sie es schon mechanisch zurückstecken, dann jedoch kam ihr plötzlich eine Idee.
»Viel Freude wird der Abt nicht daran haben, uns zu bestehlen«, murmelte sie. »Darauf möchte ich wetten.«
Nach der Non arbeitete sie mit Schwester Benigna wie gewohnt im Garten, wobei die Infirmarin sich allerdings über die ungewohnte Schweigsamkeit ihrer jungen Schülerin wunderte. Dafür widmete sich Theresa dem Unkrautjäten auf einmal mit nie zuvor gekannter Hingabe. Später hatten sich die beiden gerade mit den anderen zur Vesper in der Kapelle versammelt, als plötzlich laute Stimmen die Andacht störten.
»Schnell - der Abt ist zurück! Er hat unterwegs einen Unfall erlitten!«
Sie stürmten hinaus, Hildegard allen anderen voran, und fanden einen windschiefen Bauernkarren vor, in dem Kuno schmerzverzerrt hockte.
»Mein rechter Arm!«, rief er und verdrehte voller Qual die Augen. »Ich kann ihn nicht mehr bewegen.«
Schwester Benigna ließ ihn in das Krankengebäude bringen und diagnostizierte einen Speichenbruch, den sie mit Beinwellsalbe bestrich. Ein mittels Eiklar gehärtetes Dreiecktuch aus festem Leinen sorgte für die Ruhigstellung. Während ein paar Tropfen von Benignas berühmter Mohnmischung den Abt in sanfte Träume schickten, machten bereits die ersten abenteuerlichen Gerüchte die Runde.
Strauchdiebe? Ein Überfall? Ein steigendes Pferd?
Der Weiße jedenfalls, der, wie es flüsternd weitergetragen wurde, satansgleich mit Abt Kuno durchgegangen sei, fand sich am nächsten Morgen lammfromm grasend vor der Klosterpforte wieder. Hildegard ließ ihn zurück in den Stall bringen. Dort unterzog sie den zerschlissenen Zügelrest, der noch am Trensenring hing, einer genauen Prüfung. Ein winziges Lächeln spielte um ihre Lippen. Das sah ihr nicht nach brüchig gewordenem Leder aus, das schließlich gerissen war!
Wieder ernst geworden, trieb sie energisch die zweite und dieses Mal endgültige Abreise Kunos voran, der missvergnügt in Joschs Wagen hockte und jetzt offenbar keinerlei Wert mehr darauf legte, ein derart wildes Pferd mit zu den Brüdern vom Disibodenberg zu nehmen.
Eigentlich hätte sie nun das Mädchen rufen lassen müssen, um die Dinge aufzuklären und sie vor allem zu Reue und Einkehr zu veranlassen. Immerhin war ein Mensch zu Schaden gekommen, und es hätte sogar noch böser kommen
können. Dass niemand anderer als Theresa hinter diesem »Unfall« steckte, lag für die Magistra klar auf der Hand.
Doch sie zögerte, ging lange in sich, suchte Trost im Gebet und entschloss sich nach einigen Tagen, die Klärung noch weiter aufzuschieben. Hatte sie Gott nicht immer wieder um ein Zeichen gebeten? Und war Theresa nicht zum ersten Mal leidenschaftlich für die Belange des Klosters eingetreten, wenngleich mit den verkehrten Mitteln?
Offenbar war Ada von Ortenburgs Tochter dabei, sich für den Rupertsberg zu entscheiden, eine Vorstellung, die Hildegards Herz ganz leicht und hell machte. Theresa sollte all die Zeit bekommen, die sie dafür brauchte.
Ermahnungen konnten warten.
Die Kapelle war fast taghell von Kerzen erleuchtet. Weiße Seide, bei jeder Bewegung raschelnd und verheißungsvoll wispernd. Heute trug keine der frommen Schwestern den strengen Schleier der Benediktinerinnen. Die Haare waren gelöst, gebürstet, bis sie glänzten, und mit hauchdünnem Goldgespinst umhüllt, das sie alle wie Bräute aussehen ließ. Diesen Eindruck verstärkten noch die immergrünen Kränze, die sie auf dem Kopf trugen, kunstvoll mit goldenen Kreuzen und dem Zeichen des Lamms verflochten.
Es war nicht das erste Mal, dass die Magistra auf solch spezielle Weise die Liturgie feiern ließ. Gerade das Erntedankfest schien ihr aufs Beste geeignet, um Gott in Weiß und strahlendem Gold zuzujubeln. Der Innenraum der Kapelle glich einem Blütenmeer. Süß und würzig duftete es wild durcheinander, als eiferten Blumensträuße und Kräuterbüsche in liebevollem Wettstreit miteinander.
Zum ersten Mal sangen die frommen
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