Die Prophetin vom Rhein
heimlich die alte Meline aufgesucht und sie beschworen hatte, sie so schnell wie möglich von der unerwünschten Frucht zu befreien, die sich in ihrem Bauch eingenistet hatte. Ottl, der spielte und alles versoff, sobald er ein paar Kreuzer in der Tasche hatte - streng verbotene Zerstreuungen für einen Gläubigen. Sie selbst, die den nagenden Hunger in ihrem dürren Leib niemals loswurde, der schier verrückt spielte, sobald er gebratenes Fleisch roch, und auch nicht einen Gedanken daran verschwendete, dass sie damit vielleicht Seelen verschlang, die auf ihrer Wanderung vorübergehend in einem Tierleib gelandet waren. Und schließlich eben Willem, der Neffe des neuen Diakons, der sich am Hafen heimlich mit Theresa traf, wie sie zufällig herausgefunden hatte, als sie wieder einmal auf der Jagd nach verbotenen Genüssen gewesen war.
Welche Geheimnisse mochten erst die Neuen mit sich herumtragen, die heute zum ersten Mal in das Haus am Brand gekommen waren, um öffentlich Beichte abzulegen? Aufgeregt waren alle, das erkannte Magota am unruhigen Scharren der Füße und an ihrer Körperhaltung. Die einen saßen ganz still wie betäubt, während andere es kaum fertigbrachten, ihre Gliedmaßen auch nur einigermaßen ruhig zu halten.
Adrian van Gent war inzwischen bei seinem Lieblingsthema angelangt, auf das er stets zu sprechen kam, wenn die Reue der Versammelten besonders heftig ausfallen sollte: »Wenn ein Mann eine Frau geschlechtlich erkennt, steigt der Gestank dieser Sünde bis zum Himmelszelt, und diese Höllenbrunst verpestet die ganze Welt. Neun Tage muss er danach Buße tun, bei Wasser und Brot, muss beichten und bereuen, um wieder rein zu werden.«
Es stand ihm gut zu Gesicht, wenn er so erregt war. Sein sonst bleiches Antlitz war leicht gerötet, was ihn jünger machte und ihm etwas Verwegenes gab, das Magotas Herz schneller klopfen ließ. Die dunklen Augen funkelten; seine Nase wirkte stolz und kühn. Eine silberne Strähne war ihm in die Stirn gefallen. Plötzlich überkam Magota die Lust, mit beiden Händen durch sein glattes Haar zu fahren und es liebevoll zu zerzausen. Und wie es sich wohl erst anfühlen würde, seine Lippen gebieterisch auf den ihren zu spüren? Bei dieser Vorstellung wurde es Magota erst kalt, dann glühend heiß.
Die ersten Gläubigen hatten sich erhoben und stießen bebend ihr Sündenbekenntnis hervor, lächerliche Kleinigkeiten, kaum der Rede wert, die viel zu sehr aufgebauscht wurden, wie Magota fand.
Alle logen. Alle. Trudi, dass sie einen einbeinigen Bettler hungrig habe weiterhumpeln lassen, Walther, dass seine angepriesenen Äpfel alt und schrumpelig gewesen seien. Irmgart bereute öffentlich, wie lieblos sie ihrer alten Mutter geantwortet habe, Ottl, dass er einem Vollkommenen aus Trägheit den verkehrten Gruß entboten habe.
Adrian hielt die Augen geschlossen und beschränkte sich, kaum hatte jeder mit seiner Beichte geendet, auf ein kurzes Nicken. Als die Reihe an Magota kam, ging ein Zittern durch ihren Körper. Welche ihrer Sünden konnte
sie preisgeben? Die Liste erschien ihr derart endlos, dass sie kaum wusste, wo sie beginnen sollte.
»Nun, meine Schwester in Gott?« Adrian klang jetzt wieder wie ein besorgter Freund, um Heilung bemüht.
Sie suchte seinen Blick, doch seine Augen schienen durch sie hindurchzusehen, als sei sie gar nicht vorhanden. Eine Welle von Scham erfasste sie. Dass sie heimlich Gebratenes in sich hineinstopfte, sobald sich Gelegenheit dazu ergab, konnte sie nicht öffentlich bekennen. Erst recht durfte der Diakon niemals erfahren, welch verbotene Begierden er in ihr entzündet hatte.
»Ich … ich hab gelogen«, flüsterte sie schließlich und hatte das Gefühl, für jeden Einzelnen hier zu sprechen. »Aber bloß aus Versehen, weil ich nämlich …« Sie verstummte.
Die Augen aller schienen auf sie gerichtet.
»Vergebung kann dir nur erteilt werden, wenn deine Reue echt und tief ist«, hörte sie Adrian sagen. »Die Voraussetzung dafür ist allerdings Ehrlichkeit, rein und ohne jeden Vorbehalt. Also? Ich höre.«
»Gelogen hab ich«, wiederholte Magota, so leise, dass man sie kaum verstehen konnte. Ihr Körper kribbelte, als sei sie in einen Ameisenhaufen gestiegen; in den Ohren klingelte es. »Ich hab gesagt, ich hätte …«
»Die Wahrheit, Schwester!«, unterbrach Adrian sie. »Allein die Wahrheit kann dich retten!«
Lautes Poltern, weil einer der Hocker plötzlich zu Boden fiel. Willem war aufgesprungen, stand einen Augenblick vor
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